– Gott, hilf dem Kind –

Toni Morrison

„Es ist nur eine Farbe“, hatte Booker gesagt. „Ein genetisches Merkmal — kein Makel, kein Fluch, kein Segen und auch keine Sünde.“ „Aber“, entgegnete sie, „andere denken an rasse—“ Booker fiel ihr ins Wort. „Wissenschaftlich betrachtet gibt es so was wie Rasse gar nicht, Bride, und ohne Rasse ist Rassismus nichts anderes als eine Wahl, die jemand trifft. Die natürlich vorgelebt wird, von denen, die es nötig haben, aber es bleibt eine Wahl. Menschen, die diese Wahl treffen, wären das reine Nichts ohne sie.“

Es ist meiner Meinung nach nicht das beste Buch von Toni Morrison, aber ein sehr gutes allemal.

Erzählt wird die Geschichte von Bride, die aus einfachsten Verhältnissen stammt und als Karrierefrau bei einem Kosmetikunternehmen durchstartet.

Ihre Mutter Sweetness, eine hellhäutige Schwarze, erschrickt als sie Lula Ann, Brides richtiger Name, zum ersten Mal sieht, denn die Hautfarbe ihrer Tochter ist tiefschwarz. Bald darauf verschwindet der Vater, dem das zuviel ist.

Um Lula Ann/ Bride auf ihre Zukunft vorzubereiten, erzieht sie sie ohne Liebe und mit großer emotionaler sowie körperlicher Distanz. So denkt sie, wird die Tochter abgehärtet gegen den Rassismus, der ihr zwangsläufig durch die dunkle Haut widerfahren wird.

Bride/ Lula Ann wird aus ihrem Alltag gerissen, als sie plötzlich und ohne jede Erklärung von ihrem Freund sitzen gelassen wird. Kurze Zeit darauf erlebt sie etwas Traumatisches, welches mit einem schrecklichen Geheimnis aus ihrer Vergangenheit zu tun hat.

Für diese Erinnerungen muss sich Bride öffnen, damit sie eine Chance auf ein Leben ohne Schuld und emotionaler Isolation hat.

In diesem Roman schreibt Toni Morrison über die „Rassenansichten“ in den Staaten, über Schwarze mit heller Haut (White Passing), Rassismus und emotionalen sowie sexuellen Kindesmissbrauch…diese Punkte werden aber eher angeschnitten, als dass sie sich voll entfalten.

Nichts desto trotz lohnt es sich dieses sprachlich gelungene Buch zu lesen.

Aus mehreren Perspektiven verschiedener Frauen, schreibt die Autorin welche Rolle Entscheidungen in unserem Leben spielen und wie sie dieses beeinflussen.

Leise, berührend und großartig erzählt.

– Kindheit –

Tove Ditlevsen

Letztes Jahr hat die Kopenhagen-Trilogie im Frühjahrsprogramm des Aufbauverlags mein Interesse geweckt.

Auch wenn es immer so eine Sache mit Hype-Büchern ist…in diesem Fall lohnt es sich wirklich.

„Meine Eltern mögen es nicht, dass ich an Gott glaube, und sie mögen die Sprache nicht, die ich verwende. Mich wiederum stößt ihr Sprachgebrauch ab, denn sie bedienen sich der immer gleichen groben und plumpen Begriffe und Redewendungen, deren Bedeutung nie das trifft, was sie sagen wollen.“

Tove Ditlevsen erzählt auf poetische und beeindruckende Weise die emotionalen und geistigen Entbehrungen ihrer Kindheit.

Der narzisstischen Liebe ihrer Mutter ausgesetzt, der liebevollen Gleichgültigkeit ihres Vaters ausgeliefert und mit dem ihr immer vorgezogenen Bruder Edvin, wächst Tove in Kopenhagen der 20er Jahre auf.

Die Familie ist arm, der Vater zwischendrin auch eine Zeit lang arbeitslos. So flüchtet sich Tove bald in die Poesie und in ihr pittoreskes Innenleben.

Nach außen hin trögt sie für alle anderen eine Maske, denn sie spürt, sie fühlt und denkt anders.

„Einmal fragte ich ihn: „Was bedeutet Kummer, Vater?“ Ich war bei Gorki auf dieses Wort gestoßen und liebte es. Er überlegte lange, während er über seine gezwirbelten Schnurrbartenden strich. „Das ist ein russischer Ausdruck“, antwortete er dann. „Es bedeutet Schmerz, Elend, Trauer. Gorki war ein großer Dichter!“ Er runzelte die Stirn und erwiderte: „Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann kein Dichter werden.“ Ich zog mich gekränkt und betrübt wieder in mich selbst zurück, während meine Mutter und Edvin über meinen abstrusen Einfall lachten. Ich schwor mir, nie wieder jemand anderem meine Träume zu verraten und hielt mich meine ganze Kindheit über daran.“

Das Schreiben und die Poesie helfen Tove die fehlende Geborgenheit und Anerkennung in ihrer Kindheit zu überstehen.

Die Autorin schreibt in einer intensiven, dichten Sprache die Brutalität des Aufwachsens der damaligen Zeit in einer Arbeiterfamilie.

Poetisch, atmosphärisch und bedrückend.

Ich freue mich schon auf Band 2 und 3! (Februar)

– Ich will kein Hund sein –

Alma Mathijsen

Fast jeder kennt diese schmerzerfüllte, nicht enden wollende Verzweiflung wenn man Liebeskummer hat. Wenn sich alles falsch anfühlt und man einfach nur noch möchte, dass der Schmerz vorübergeht, an dem man zu Ersticken droht.

Die niederländische Autorin Alma Mathijsen hat ein so unglaublich skurriles und cooles Buch über den „Wahnsinn“ einer Verlassenen geschrieben; eine grenzüberschreitende Tragikomödie.

Voll abgedrehter Ideen beschreibt sie eine Frau, die Ich-Erzählerin, die sich ihren Gefühlen über ihre gescheiterte Beziehung nicht stellen möchte und in ihrer Verzweiflung beschließt, sich in einen Hund zu verwandeln, um so ihrem geliebten Ex nahe sein zu können; wenn er sie denn aufnimmt.

Die geeignete Adresse hat sie aus dem Internet und nimmt Kontakt zu dem Unternehmen auf, welches dies realisieren soll. Bald steht Mitarbeiterin Nico vor ihrer Tür und händigt ihr einen Vertrag aus, den sie unterzeichnen muss und erklärt ihr alle Einzelheiten und Stationen der Transformation.

Für die Protagonistin gibt es kein Zurück – sie will den Kummer beenden, willigt ein und unterschreibt. Die ersten Maßnahmen im Transformationsprozess beginnen und schon bald zeigen sich erste Anzeichen einer Verwandlung…

Mehr möchte ich nicht mehr vom Inhalt preisgeben – nur soviel:

Diese Novelle macht wirklich soviel Spaß und ist einfach total originell. Die Sprache ist kraftvoll, präzise und einfach herrlich authentisch was Gedanken und Gefühle bei Liebeskummer betrifft. Traum und Realität verwischen und man fragt sich mehr als einmal, was da gerade geschieht.

„Ist es am Ende vielleicht doch besser, wie ein Mensch fühlen zu können, auch wenn es uns manchmal in den Wahnsinn treibt?“

Schonungslos, emotional und komisch.

Übersetzung: Andreas Ecke

Pluspunkt: Dieses Buch wurde klimaneutral produziert. Nachhaltig – in vielerlei Hinsicht!

– Das Baby ist meins –

Oyinkan Braithwaite

Der Ich-Erzähler und Frauenheld Bambi, wurde gerade von seiner Freundin Mide wegen Untreue rausgeworfen. Mitten im Corona-Lockdown. Doch wohin soll er so schnell, abends, wo man sich eigentlich nicht draußen herumtreiben soll? Er beschließt kurzerhand zu seiner Tante „Aunty Bidemi“ zu ziehen, die kürzlich verwitwet ist.

Dort angekommen, stellt er fest, dass neben Bidemi mit Baby auch eine weitere Frau dort wohnt; die ehemalige Geliebte seines verstorbenen Onkels Folu, namens Esohe. Beide Frauen beanspruchen die Mutterschaft über Baby Remi für sich.

Gemeinsam im Lockdown „gefangen“ und durch einige erschwerende Umstände wie Stromausfälle, spitzt sich die Situation immer weiter zu. Wegen Überlastung der Krankenhäuser ist eine medizinische Untersuchung samt DNS Test nicht möglich. Bambi weiß nicht, welcher der beiden Frauen er Glauben schenken soll.

Bidemi und Esohe bekriegen sich aufs Äußerste und nehmen dabei nicht mal auf Baby Remi Rücksicht, um ihr vermeintliches Recht durchzusetzen. Um das Kind aus der Schusslinie zu holen, beschließt Bambi sich selbst um das Baby zu kümmern. Parallel dazu muss/soll er als Mann im Haus  ein Machtwort sprechen und eine Entscheidung fällen, wem Remi denn nun gehört.

Dieses Buch ist ein skurriles Kammerspiel mit überspitzten Situationen und einem richtigen Macho als Hauptfigur, der ebenso wie die Frauen, nicht aus der unerträglichen Lage abhauen kann.

Es ist schnell gelesen und macht Spaß. Für mein Empfinden etwas für zwischendurch.

Absurd, unterhaltsam, pointiert.

– Irgendwann wird es gut –

Joey Goebel

Gestern wurde ich zufällig daran erinnert, dass ich „Irgendwann wird es gut“ von Joey Goebel noch nicht rezensiert habe.

Schlimmes Versäumnis, denn ich liebe seine Bücher!

Bis heute sind mir Opal und Ember aus „Freaks“  (Originalausgabe: The Anomalies) im Gedächtnis geblieben – es war das erste Buch des Autors, welches ich gelesen habe.

„Vincent“ und „Heartland“ kamen als Nächstes.

Und auch in „Irgendwann wird es gut“ zeigt Joey Goebel wieder seine Sympathie für die “Außenseiter und Loser“ der Gesellschaft, angesiedelt in der fiktiven Kleinstadt Moberly.

„Ein junger Mann wartet mit zwei Drinks auf seine Angebetete. Sie kommt pünktlich — im Fernsehen.

Ein zwölfjähriges Mädchen will nicht zu schnell erwachsen werden. Und ein Messie findet ins Leben zurück dank einer hübschen Frau, die womöglich noch trauriger ist als er selbst.“

Es ist eine Geschichten-Sammlung voller Herz, Komik und auf jeden Fall lesenswert.

Berührend, hoffnungsvoll und prägnant.

– Vati –

Monika Helfer

„Wir sagten Mutti. Unser Vati wollte es so.“

Wie schon in „Die Bagage“ erzählt Monika Helfer in „Vati“ Geschichten aus ihrem Leben.

In den episodenhaften Erinnerungen, die zeitlich hin- und herspringen, berichtet die Autorin über das Leben mit Vati, seiner großen Liebe für Literatur und Bücher, seine Verwundung im Krieg.

Ein schweigsamer Typ war er, der Vati. Doch mit Monika verband ihn etwas spezielles. Sie hatten ihre kleinen Geheimnisse, ihre Blicke, ihre Gedanken — er forderte ihr Interesse an Büchern ein. Er machte sie zu Komplizen.

„Meine ersten beiden Bücher, einen Erzählband und einen Roman, erlebte er noch, und ich brachte ihm je ein Exemplar mit einer Widmung — „Für Vati, Du siehst, auf dem Rücken steht mein Name.“ Ich war gerührt, den ganzen Abend war er dagesessen mit den Bänden in seinen Händen, hatte sie gestreichelt, hatte daran gerochen, hatte irgendwo aufgeschlagen und mit hochgezogenen Brauen einen Absatz gelesen, ohne Kommentar. Als ich das nächste Mal zu Besuch kam, sah ich, dass er meine Bücher im Regal für deutschsprachige Autoren eingeordnet hatte, immerhin gleich hinter Heinrich Heine.“

Es war ein einfaches Leben voller Entbehrungen, welches die Bagage geführt hat. Später als Leiter eines Kriegsopfer-Erholungsheimes, widmete er sich wieder seiner Bibliothek, dort oben in den Bergen. Weiterhin sehr still, wie es viele Männer dieser Generation gewesen sind.

Dieses Leben war für niemanden leicht.

Monika Helfer schafft es auf wenig Seiten Großes zu erzählen. Ohne Hektik und leise erinnert sie sich voller Respekt, auch an weniger angenehme Dinge.

Sensibel, lakonisch und atmosphärisch.

Erscheinungstermin: 25.01.2021

Vielen Dank an @hanserliteratur und @vorablesen für dieses wundervolle Rezensionsexemplar!

– Ein wenig Leben –

Hanya Yanagihara

Jude, Willem, JB, Malcolm…

…Namen, die mich von heute an immer begleiten werden.

Sie gehören vier Männern, deren Leben ich eine Zeit lang mit gelebt habe. Durch ihre Augen erfuhr ich Leid, Kummer, Agonie….aber auch Liebe, Freundschaft und Wertschätzung.

Ich neige dazu überhaupt keine langen Rezensionen zu lesen und so war ich definitiv unvorbereitet, was mich zwischen den Buchdeckeln in diesem Buch erwartet. Auf über 900 Seiten reisst uns Hanya Yanagihara immer wieder das Herz entzwei und flickt es dann wieder zusammen.

Eigentlich habe ich öfter daran gedacht, das eine Trigger-Warnung auf dieses Buch gehört, weil es einige Stellen gibt, die fast unerträglich sind. Ich habe sehr geweint. Es waren Tränen eines mitfühlenden Menschen, es waren Tränen einer Mutter. Viele, viele Tränen.

Und dann gibt es Abschnitte, in denen man die ganze Palette menschlicher Wärme empfindet und sich unbändig für die Protagonisten freut. Ein wundervolles Buch, mit einem der schlimmsten Schicksale, von dem man je gehört hat.

Die einzige kleine Schwäche empfand ich in ein paar Längen.

Dringende Leseempfehlung – aber Achtung: nichts für zarte Gemüter.

Ergreifend, kräftezehrend, außergewöhnlich.