– Wir hätten uns alles gesagt –

Judith Hermann

Von Judith Hermann über das Schreiben lesen. Über ihre Art die Dinge zu sehen und zu Papier zu bringen.

“Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.” 

Dadurch können wir hier eine biografische Fiktion oder fiktive Biografie genießen. Wir begegnen ihrer Freundin Ada, hören von ihren Großeltern und begleiten Sie zu ihren Sitzungen bei ihrem Therapeuten Doktor Dreehüs.

Dennoch verfolgt die Handlung hierbei kein Ziel sondern stellt vielmehr Etappen und Stationen ihres Lebens dar.

Das was sie lebt, schreibt sie.

Wie bereits in -Daheim- hat mich Frau Hermanns einzigartiger Schreibstil in seinen Bann gezogen, meine Gedankenwelt angestupst.

Sie hat dieses Händchen für Untertöne, für das Dahinter und auch das Weglassen.

“Was genau ist der Unterschied zwischen Ausdenken, Träumen und Übertreiben. Das Eigentliche des Traumes ist nicht sein Inhalt, seine Handlung, sondern das Gefühl, mit dem er geträumt wird, sein Stoff im haptischen, im empfindsamen Sinn. Dieser Stoff bleibt, wenn du wach wirst.”

Ich freue mich schon sehr auf die baldige Lesung in Regensburg zu diesem genialen Buch.

– Macht –

Heidi Furre

„Mein ganzes Leben lang habe ich gedacht, ich sei frei und souverän. Bis ich kapierte, dass das nicht so stimmt. Dass solche Dinge jedem und jederzeit passieren können. Das ist es, was mich so beschäftigt. Nicht der Vorfall an sich, sondern der Terror seiner Existenz.”

Ich fühlte mich Liv sehr nahe, mit ihrer Art mit den Dingen umzugehen, wie sie denkt und wie sie versucht die Kontrolle wiederzuerlangen über ihr Leben, ihre Gefühle und den “Vorfall” endlich hinter sich zu lassen. Sie fühlt soviel und doch ist da diese Leere, dieses Stumpfe, dass in ihr zurückgeblieben ist. Ein Teil von ihr ist in dieser Nacht gestorben. Nun muss sie den Rest neu organisieren.

Liv, die als Pflegerin arbeitet, hat ihre Vergewaltigung vor knapp 15 Jahren nicht verarbeitet. Ihr Ehemann weiß nichts davon. Sie will kein Opfer sein, sieht sich nicht als eine “dieser Vergewaltigten”. 
Doch sie kann sich dem Trauma nicht entziehen und verfällt immer wieder einem Gedankenkarussell, den Erinnerungen und der Frage nach der Schuld.
Hat sie sich ausreichend gewehrt? Hat sie deutlich genug abgelehnt? Sie ging doch freiwillig mit. Was hat die Vergewaltigung mit dem Vergewaltiger gemacht? Denkt er noch an seine Tat? An sie?
Es kommt der Punkt an dem sie die Macht wiedererlangen will.

Eindringlich, kraft- und ausdrucksvoll beschreibt Heidi Furre was -danach- kommt. Eine Frau überlebt eine Vergewaltigung, schwebt aber dennoch in einem Zwischenraum, aus dem sie wieder herauszukommen versucht. Auf Grund der Ich-Perspektive sieht man sich schnell in der Position der Protagonistin und lässt einen die Auswirkungen auf ihren Alltag miterleben. Dies hat bei mir eine Erinnerung nach der anderen an die Oberfläche geholt. Jegliche Belästigung, jegliche brenzlige Situation, unpassende Kommentare.
In keiner Sekunde kam mir die Story aufgesetzt oder unrealistisch vor.
Furre musste absichtlich Distanz aufbauen um über die unsägliche Traurigkeit schreiben zu können und so ein ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Folgen und Überlegungen sexuelle Gewalt nach sich ziehen.

Ich habe die ersten Rezensionen zu -Macht- von Heidi Furre gelesen. Es wurde gesagt, die Protagonistin wäre unsympathisch, sie hat einen nicht berührt und das Buch hat nicht gefesselt.
Dem muss ich absolut widersprechen. Für mich war klar, dass ihre Gefühle in weiter Ferne sind. Abgespalten seit dem Tag der Vergewaltigung. Keine Hysterie, kein Durchdrehen vor aller Augen. Sie zeigt sich nicht als Opfer. Vielleicht liegt es daran, dass so wenige Zugang finden.

Übersetzung aus dem Norwegischen: Karoline Hippe

Vielen Dank an Dumont Verlag für dieses unglaubliche Rezensionsexemplar. Unbezahlt.

– Before the coffee gets cold –

Toshikazu Kawaguchi

Es gibt da dieses Café, welches neben gutem Kaffee auch Reisen in die Vergangenheit anbietet.
Hierzu gibt es strenge Regeln zu beachten.

1. Nur ein bestimmter Platz ist in der Lage dem Gast eine Zeitreise zu gewähren.
2. Wenn man in der Zeit zurückreist, darf man das Café während des Aufenthalts nicht verlassen.
3. Es ist nicht möglich die Gegenwart durch die Zeitreise zu ändern. Was geschehen ist, ist geschehen.
4. Man muss zurückkommen, bevor der Kaffee in der Tasse kalt geworden ist.
5. Es gibt noch einen Punkt – aber den verrate ich nicht!

In vier kurzen Stories erfahren wir, wie vier unterschiedliche Charaktere, deren Geschicke miteinander verbunden sind, eine Zeitreise machen. Eine junge Frau wird in dem Café von ihrem Freund verlassen und möchte in der Vergangenheit die Gelegenheit nutzen etwas Unausgesprochenes zu sagen. Eine Frau möchte ihren dementen Ehemann treffen, bevor er sie vergisst, eine große Schwester möchte sich mit ihrer jüngeren aussöhnen….und eine Reise ist völlig anders als die anderen…und für mich persönlich auch die Schönste. Doch an dieser Stelle erzähle ich nicht weiter um nicht zu spoilern.

Ein wirklich herzerwärmendes, rührendes und doch bittersüßes Buch, welches uns daran erinnern und dazu ermuntern möchte, Chancen nicht verstreichen zu lassen.

Ich habe es auf Englisch gelesen, es gibt aber offenbar bereits eine Deutsche Übersetzung.

Aus dem Japanischen: Geoffrey Trousselot 

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– Die geheimste Erinnerung der Menschen –

Mohamed Mbougar Sarr

“Wie haben wir uns gefunden, dieses Buch und ich? Durch Zufall, wie immer.”

-Die geheimste Erinnerung der Menschen- scheint für Buchmenschen gemacht. Nie ging es mehr um Literatur und ihre Macht uns in ihren Bann zu ziehen, unser Innerstes zu erreichen und ihre Eigenart uns vor so manches Rätsel zu stellen.

Während der junge Senegalese Diégane Latyr Faye in Paris für sein Studium arbeitet, spürt er immer mehr den Drang als Schriftsteller ein großes Werk zu schreiben. Als Diégane Bekanntschaft mit der geheimnisvollen Autorin Sida D. macht, verändert sich alles.

Sie gibt ihm “Das Labyrinth des Unmenschlichen” von T.C. Elimane zu lesen. Elimane wurde seinerzeit als “Schwarzer Rimbaud” bezeichnet, während zeitgleich Rassismus seinen Alltag beherrscht, der zu guter letzt in Plagiatsvorwürfen mündet. Schließlich ist es praktisch ausgeschlossen, dass ein Schwarzer zu solch literarischer Brillanz fähig ist…

Schnell verschwand das Buch aus dem öffentlichen Bewusstsein und auch aus den Regalen. Der Autor scheint mit seinem Werk entschwunden zu sein.

Diégane macht es sich zur Aufgabe T.C. Elimane zu finden, erhofft er sich doch Antworten auf die Frage ob es das eine große Buch gibt, welches alles beinhaltet.

“Große Werke laugen einen immer aus, und das sollen sie auch. Sie nehmen das Überflüssige von uns. Ihre Lektüre macht einen stehts bedürftig. Man ist bereichert, aber bereichert durch Subtraktion.”

Ein unglaublich großartiges, tiefgreifendes Buch! Diese Lektüre hat mich so sehr gefesselt, mich lesen lassen bis mir die Puste ausging, hat mich in Lesepausen beschäftigt…Sätze, Wörter, Botschaften haben mich geflutet. Ein ganz großer Wurf ist hier Mohamed Mbougar Sarr gelungen – kein Wunder, dass er hierfür den Prix Goncourt erhalten hat.

– Salomés Zorn –

Simone Atangana Bekono

“Papa sagte, dass man nicht gemobbt werden kann, wenn man die, die einen mobben, einfach ignoriert. Zwei Wochen später kaufte er einen Punchingball.”

Salomé ist sechzehn, lebt in einem Dorf in den Niederlanden und sieht sich täglich mit den rassistischen Beschimpfungen und dem Mobbing ihrer Mitschüler:innen konfrontiert.

Irgendwann steigt ihr gesamter Zorn an die Oberfläche.

Dieser Wut wegen, landet sie in einer Jugendstrafanstalt. Dort muss sie ihre Strafe absitzen und parallel dazu auch gleich eine Therapie machen.

Internet, TV und Freizeitaktivitäten werden streng reglementiert. Ihre Mitinsassinnen haben alle ihre eigenen Probleme. Sie ist mit keiner zerstritten, aber das Einzige was sie verbindet ist ihre Haft. An diesem Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, versucht sie zu ergründen woher der Zorn kommt.

Simone Atangana Bekono schreibt in ihrem Debütroman über eine Teenagerin, die genug hat. Genug von der Provinz in der sie anders aussieht als die anderen, genug von Menschen, die ihr täglich zeigen wie anders sie sie sehen, genug von einem System welches ihr die Chancen versagt. Die Ignoranz, der Rassismus und das Unverständnis ihres Umfelds drängt die junge Frau solange in die Ecke, bis letztendlich der Korken aus der Flasche knallt und eine andere Salomé zutage tritt. In der Isolation kann sie nur mutmaßen wie es in einer besseren Welt um sie stehen würde und ob ihr Vater beratende Hilfe geholt hätte anstatt einen Punchingball.

Die Autorin nutzt harte, direkte Worte um das Innenleben ihrer Hauptfigur zu beschreiben. Während sie in ihrem Zimmer liest und nachdenkt, bleibt Salomé nichts anderes übrig als sich einzugestehen, dass Gewalt nicht die Lösung ihrer Probleme ist. Der Zorn vergeht nicht durch noch mehr Zorn, er frisst einen nur auf.

Ein wirklich starkes Debüt welches den Finger tief in die Wunden unserer Gesellschaft drückt. Unbedingt lesen!

Übersetzung: Ira Wilhelm

(unbezahlt/ Rezensionsexemplar) Vielen Dank an das Team von C.H. Beck und auch an die Autorin, die einen exklusiven Launch zu ihrem Debütroman ermöglicht hat.

– Die Liebe an miesen Tagen –

Ewald Arenz

“Vielleicht”, begann er stockend, “vielleicht gibt es Momente im Leben, in denen man plötzlich weiß, dass sich etwas ändern muss. Dass es mit einem selbst so nicht weitergehen kann.” S.114

An diesem Punkt in seinem Leben ist Schauspieler Elias angekommen, als er der älteren Clara begegnet. Ihm wird klar, dass die Beziehung zu seiner Freundin Vera keinesfalls gleichberechtigt ist, noch der richtige Weg für ihn oder sie.
Clara fühlt es ebenfalls. Sie muss sich eingestehen, dass die Zeit des Alleinseins nun vorüber ist. Ganz gleich wie sehr sie mit Ängsten und Zweifeln kämpft, die Liebe und tiefe Verbundenheit zu Elias ist echt.

Doch ist es möglich den Gefühlsballast vergangener Beziehungen hinter sich zu lassen, sich soweit von den gemachten Erfahrungen zu lösen um sich auf eine neue, ja vielleicht die erste richtige Liebe einzulassen?
Auch alltägliche Verpflichtungen können ein Paar vor ungeahnte Schwierigkeiten stellen. Clara hat erst kürzlich ihren Job verloren und trägt Verantwortung für ihre demente Mutter, die immer wieder für unvorhergesehene “Abenteuer” sorgt. Elias lebt seinen Beruf als Schauspieler mit Leib und Seele und erfüllt gleichzeitig seine Vaterpflichten für die fast erwachsene Tochter.

Was habe ich diesem Buch entgegen gefiebert! Nach all den unzähligen Coming-of-Age Romanen hatte ich es so satt! (Ja ich weiß – @ewald_arenz hat auch einen geschrieben, aber er hat hier jetzt Wiedergutmachung geleistet 😉)
Ich war so begeistert von der Chemie beider Hauptfiguren und von der Tatsache, dass die Gedanken, Gespräche und Lebensrealitäten so authentisch waren. Clara und Elias wissen, dass nicht alles immer nur Zauber ist, dass der Alltag oder eine Krankheit einem oft einen Strich durch die Rechnung machen. Sie verstehen, dass Zeit kostbar ist und es einfach keine Spielchen mehr braucht. Neben all der Liebe, die sie füreinander empfinden, sind da aber auch Zweifel ob sie beide in eine gemeinsame Richtung gehen und welche Zukunft sie erwartet. 

Versteht mich bitte nicht falsch! Coming-of-Age ist schon okay. Aber “being-grown up with a dash of childlike joy” ist mir einfach um einiges lieber 🙂 

Es gibt auch einen Kritikpunkt, den ich bewusst weggelassen habe, damit ich Spoiler vermeide. Mit Leser:innen die das Buch gelesen haben, bespreche ich diesen Punkt gerne. 👍🏻

[unbezahlt/ Rezensionsexemplar] Vielen Dank an @dumontbuchverlag

– Tristania –

Marianna Kurtto

„Würden die Wellen etwas fühlen, würden sie sich wundern, wenn sie auf die Insel träfen; sie haben geglaubt, der Weg wäre endlos, eigentlich sogar, ihre Welt wäre die Unendlichkeit.“

Tristan de Cunha, Oktober 1961 – eine kleine Vulkaninsel im Südatlantik.

Lise und ihr Sohn Jon leben dort ihr Leben weiter, nachdem Vater Lars die Familie verlassen hat um in England ein anderes zu führen.

Während Lise darüber nachdenkt, was zwischen ihrem Mann und ihr geschehen ist, zieht sich Jon immer mehr zurück.

Lehrerin Martha, die von ihrer Nachbarschaft als seltsam eingestuft wird, ist mit Bert verheiratet. Das Paar bleibt ungewollt kinderlos. Eine Situation, die Martha schwer belastet und unglücklich macht.

Als der Vulkan erwacht und die Bewohner:innen nach Kapstadt evakuiert werden müssen, bleibt Jon auf der Insel zurück, während sein Vater Lars sofort nach Hause eilt, als er von dem Ausbruch erfährt.

Es beginnt die Suche nach Jon, während das Leben der anderen in Kapstadt neue Wendungen nimmt.

Marianna Kurtto hat mit -Tristania- einen Nerv bei mir getroffen. Schon immer liebe ich diesen ruhigen, poetischen Grundton, der den gesamten Roman durchzieht. Schon der Prolog führt uns in diese dichte, eindringliche Geschichte über Menschen, deren Empfindungen so tief wie der Ursprung ihres Vulkans reichen. Die finnische Autorin arbeitet die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren meisterhaft in Wellen heraus, lässt ihnen Raum und spielt so gekonnt mit den Erwartungen, dass oft schwer abzuschätzen ist, was geschehen ist oder noch geschehen wird.

Manchmal glückt Kurtto nicht jeder Vergleich, aber im Großen und Ganzen kann man darüber hinwegsehen, da sich das Leseerlebnis ansonsten wunderbar zusammenfügt.

Die Insel samt ihrer Bewohner:innen scheinen völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Sie leben von der Fischerei, Schiffsreisen um Handel zu treiben dauern Wochen, die Zivilisation scheint in weiter Ferne zu liegen.

Ein melancholischer, lesenswerter Roman der nicht perfekt ist, aber es auch nicht sein muss um zu begeistern!

Übersetzung: Stefan Moster

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