– Wenn die Nacht am stillsten ist –

Arezu Weitholz

Die Geschichte einer Trennung…

Anna, Musikjournalistin in einer Hamburger Redaktion, sitzt am Bett ihres Exfreundes und Kollegen Ludwig, der nach einem Suizidversuch mit Tabletten bewusstlos ist.

Dies ist die Ausgangssituation einer Geschichte, die eine Art Abgesang auf eine Beziehung ist.

Anna erzählt Ludwig ihre Lebensgeschichte und all die Dinge, die sie aus Angst vor seinem strengen Urteil immer für sich behalten hat. Ludwig ist ein narzisstischer und völlig bindungsunfähiger Typ, spielt gerne den Intellektuellen und ist eine Art Pop-Szene-Blender.

Anna, die schon einiges hinter sich hat und privat schon eine Menge Krisen überstehen musste (Vater Suizid/ Mutter in Pflege), verliebt sich scheinbar immer in diese toxischen Männer. In Rückblenden erfährt man, dass sie sich auch in dieser Beziehung emotional erpressen, ja stellenweise sogar schon misshandeln ließ.

Meine Güte – kann Arezu Weitholz schreiben! Ich habe jeden Satz und jede Metapher genussvoll eingesogen. Was für eine unfassbar einnehmende Sprache und tiefe Erzählweise.

Atmosphärisch sehr dicht, melancholisch und ein literarisches Juwel.

Unbedingt lesen!

– Streulicht –

Deniz Ohde

Die Geschichte handelt von einer namenlosen, halbtürkischen Ich-Erzählerin, die aus einer Arbeiterfamilie stammt, sich in ihrem Heimatort gefangen fühlt und daran erinnert wie sie den Absprung zur Akademikerin schaffte.

Ihr Familienleben ist geprägt von häuslicher Gewalt, der Vater trinkt, in der Schule wird sie sowohl von Lehrern als auch von Mitschülern ins Abseits gestellt und schulische Erfolge oder Ambitionen werden durch Hürden und Kommentare zunichte gemacht. Die Schülerin ist zu still, zu defensiv um sich zu behaupten oder gar zu wehren und somit von vornherein vom System zum Versagen verurteilt.

Es ist unglaublich authentisch wie Deniz Ohde hier die Problematik in unserem Bildungssystem beschreibt. Eine Chancenungleichheit die Schüler*innen durch das Raster fallen lässt oder sie aussiebt, anstatt sie zu motivieren und ihnen Unterstützung angedeihen zu lassen.

Es wird Leser*innen geben, die diese Probleme nie kannten und nie gesehen haben. Und dann wird es Leser*innen geben, die ganz genau wissen wovon die Autorin hier schreibt. Die es selbst erlebt haben.

Einiges kam mir aus meiner eigenen Schulzeit sehr bekannt vor und ich schwankte immer wieder zwischen Schwermut und Ärger.

Brandaktuell, feinfühlig und tiefgreifend.

– Sempre Susan –

Sigrid Nunez

„Es ist schwieriger für eine Frau“, gestand sie ein. Das hieß: ernsthaft zu sein, sich selbst ernst zu nehmen, andere dazu zu bringen, dich ernst zu nehmen. Sie war schon als Kind energisch aufgetreten. Sollte ihr das Geschlecht in die Quere kommen? Nie und nimmer! Aber die meisten Frauen waren zu ängstlich. Die meisten Frauen hatten Angst, sich zu behaupten, Angst, zu schlau, zu ehrgeizig, zu selbstsicher zu wirken. Sie hatten Angst davor, nicht damenhaft zu erscheinen. Sie wollten nicht als hart oder kalt oder egoistisch oder arrogant gesehen werden.Sie hatten Angst, maskulin zu wirken. Regel Nummer eins war, das alles zu überwinden.

Wer sich viel mit Literatur, jegliche Form des Schreibens und politisches Engagement beschäftigt, wird irgendwann auch auf Susan Sontag stoßen.

Bekannt für ihre Essays, Kolumnen und scharfen Kritiken an der amerikanischen Politik unter Bush jr., ist sie seither allgemein als große Intellektuelle bekannt und als DIE femmes de lettres Amerikas.

In Sempre Susan beschreibt die Autorin Sigrid Nunez persönliche Einblicke aus dem Leben Sontags. Nunez verbrachte Zeit mit dieser Ikone, arbeitete für sie und war sogar mit Susan Sontags Sohn liiert. Gerade deswegen beschreibt sie die Erinnerungen auf eine sanfte und sehr nachdenkliche Art und Weise.

Sie berichtet von Sontags schwieriger Beziehung zu ihrer Mutter, ihren Erziehungsmethoden bei Sohn David und welch unstetes Leben sie geführt hat. Stillstand war für Susan Sontag etwas beängstigendes.

Elegant, schillernd und intim. 

– Die Topeka Schule –

Ben Lerner

„Die Topeka Schule ist die Geschichte einer Familie um die Jahrtausendwende. Die Geschichte einer Mutter, die sich von einer Missbrauchsgeschichte befreien will; von einem Vater, der seine Ehe verrät; von einem Sohn, dem die ganzen Rituale von Männlichkeit suspekt werden und der zunehmend verstummt. Eine Geschichte von Konflikten und Kämpfen und versuchten Versöhnungen.“

Wer auf der Suche nach anspruchsvoller Literatur ist, der kann getrost zu „Die Topeka Schule“ von Ben Lerner greifen. Zu Anfang hatte ich ein wenig Probleme in die Story zu finden, da mir der Themenwirbel ein wenig zugesetzt hat.

Nachdem ich mich reingearbeitet habe, entfaltete sich mir eine Palette brandaktueller Themen wie Rassismus, toxische Männlichkeit, die Macht der Worte und wie sich diese für politische Zwecke missbrauchen lassen. Man bekommt einen scharfen Blick auf die Gesellschaft und deren Umgang mit Wettbewerb und Geschlechtern.

Meine Bewunderung gilt auch Nikolaus Stingl, der diesen Roman übersetzt hat. Es muss wirklich harte Arbeit gewesen sein, denn auf vielen Seiten merkt man, wie intelligent und virtuos Ben Lerner Sprache verwendet um die Geschichte zu erzählen.

Sehr komplex, kraftvoll und faszinierend aktuell. 

– Frausein –

Mely Kiyak

Ein ganz außergewöhnliches Buch.

Mely Kiyak beschreibt auf knapp 130 Seiten ihr Frausein, Menschsein, Autorinnensein.

Als Tochter kurdischer Gastarbeiter, steht sie unter dem Druck der Familie, sie müsse es zu etwas bringen. Es besser machen. Erfolgreicher sein.

Sie erzählt über ihre Herkunft, über die Unterstützung der Eltern, über Familie, Beziehungen und gesellschaftliche Erwartungen. Im Verlauf ihres Studiums und bei der Arbeit als Autorin, wird ihr immer bewusster, dass dies sie völlig ausfüllt und sie sich nicht von Rollenvorstellungen abhängig machen will.

Gedanken über das Alleinsein, über das Leben in zwei Kulturen und (weiblicher) Selbstbestimmung.

Dicht, markant und intensiv.

– Lesemonat September 2020 –

Ein schöner September war das …

…hier die Leseliste:

  • Jhumpa Lahiri – Wo ich mich finde
  • Lily Brett – Alt sind nur die anderen
  • Kai Wieland -Zeit der Wildschweine
  • Elizabeth Strout – Die langen Abende
  • Arno Carnisch – Goldene Jahre
  • Valerie Fritsch – Herzklappen
  • Vivian Gornack -Eine Frau in New York
  • Yaa Gyasi – Heimkehren
  • Thomas Hettche – Herzfaden
  • Philipp Winkler – Carnival
  • Peter Lindbergh – On Fashion Photography

 Meine Lesehighlights:

– Carnival –

Philipp Winkler

„Wisst ihr, vielleicht waren die Unterschiede zwischen uns gar nicht mal so groß. Wie viele von euch haben auch wir uns über unsere Arbeit definiert. Wir haben vielleicht nicht die Welt verändert, wenn wir euch einen Hotdog in die Hand drückten oder euch in der Geisterbahn den Angstschweiß ins Gesicht trieben, aber könnt ihr von euch behaupten, die Welt zu einem besseren Ort gemacht zu haben? Darum ging’s uns nicht. Uns ging’s darum, dass ihr für einen Sonntag eure Sorgen und den Alltag daheim lassen konntet.“

Ein nostalgischer Blick auf die fast vergessene Lebensart der Schausteller, Budenbesitzer und Kirmser.

Kurz und knackig mit 100 Seiten. Für mich persönlich war es etwas zu knapp – hat mich nicht so recht abgeholt.