– Die Unschärfe der Welt –

Iris Wolff

Zuallererst kann und muss ich empfehlen „Die Unschärfe der Welt“ langsam zu lesen.

Dieser Roman braucht Zeit um dieser gefühlvollen Sprache und der originellen Erzählweise den Raum zu geben, die er verdient. Hier sitzt jeder Satz, die Formulierungen sind intensiv. Ein literarischer Genuss.

Es ist die Geschichte mehrerer Generationen einer Familie. Episodenhaft erzählen diese Menschen im rumänischen Banat über politische Strukturen, Heimat, Familienfeste, Diktatur, Flucht und Heimkehren.

Feinsinnig verwebt Iris Wolff die Fäden in diesem Roman, die immer wieder zu Samuel führen und so seine Geschichte erzählen, ohne dass er je selbst zu Wort kommt.

Ein lyrischer Reichtum auf vergleichsweise wenig Seiten. Leise, berührend und warmherzig.

Ganz klare Leseempfehlung.

– Die verschwindende Hälfte –

Brit Bennett

Der Roman spielt in Mallard, einem fiktiven, winzigen Nest in Louisiana. Die Bewohner streben seit Generationen an durch Heirat immer weißer zu werden. 

„Wie eine Tasse Kaffee, die man immer weiter mit Sahne verdünnt. Immer perfektere Negroes. Eine Generation hellhäutiger als die andere.“

Die Zwillingsschwestern Desiree und Stella, deren Haut hell wie Sahne ist, mussten als Kinder den Lynchmord an ihrem Vater durch Weiße mitansehen, sehen keine Perspektive in dem verschlafenen Ort und flüchten mit 16 nach New Orleans.

Dort findet Stella Arbeit als Sekretärin, indem sie sich als Weiße ausgibt. Von einem Tag auf den anderen verschwindet sie aus ihrem Leben als Schwarze und bricht sämtliche Kontakte ab. Zusammen mit ihrem weißen Ehemann Blake und Tochter Kennedy, lebt sie in privilegierten und finanziell gut situierten Verhältnissen.

Desiree hingegen heiratet „den schwärzesten Mann, den sie finden konnte“, bekommt ihre Tochter Jude und flüchtet letztendlich vor der Brutalität des Ehemannes zurück nach Mallard. Sie wohnt wieder bei ihrer Mutter und findet im örtlichen Diner eine Anstellung.

Jahre später treffen Jude und Kennedy aufeinander. Auch die Töchter der Zwillinge führen Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Kennedy durch ihre weiße Haut und die Lebenslüge ihrer Mutter keine Ahnung von ihren Wurzeln hat, erlebt Jude durch ihren blauschwarzen Hautton Rassismus und Ausgrenzung.

Brit Bennett vereint in diesem Roman viele Themen, die aktueller nicht sein könnten. Struktureller Rassismus, Transgender, Identität und Chancenungleichheit sind Begriffe, mit denen sich spätestens seit der #blacklivesmatter Bewegung sehr viele Menschen auseinandersetzen.

Dieses Buch ist ein wahrer Pageturner. Sprachlich sehr flüssig und angenehm geschrieben, bleibt die Geschichte wirklich spannend und berührend.

Nachdem ich mich mit dem Buch #exitracism von Tupoka Ogette auseinander gesetzt habe, ist mir das Wort „farbig“ schwer aufgestoßen, welches sehr häufig in dem Roman vorkommt. Mein Gedanke war, ob bei der Übersetzung dieser Begriff absichtlich verwendet wurde um das Rassismusthema herauszuarbeiten.

Auch die Entscheidung von Stella hat mich schwer mitgenommen. Dieses Verleugnen und dieser Wunsch weiß zu sein um „frei“ zu sein…das hat mich wirklich schockiert.

Ich kann für „Die verschwindende Hälfte“ nur eine dringende Leseempfehlung aussprechen.

Originell, hochaktuell und vielschichtig.

– Beinahe Alaska –

Arezu Weitholz

Oh ich liebe den Schreibstil von @arezu.weitholz so sehr!

Nachdem ich bereits „Wenn die Nacht am Stillsten ist“ gelesen, ja regelrecht inhaliert habe, war ich schon total euphorisch und voller Vorfreude auf „Beinahe Alaska“.

Und was soll ich sagen?! Es ist so wundervoll!

Das Buch handelt von einer Ich-Erzählerin, die sich auf eine Kreuzfahrt in die Arktis begibt. Sie ist Fotografin erhält den Auftrag an einer Expedition von Grönland nach Alaska zu fotografieren.

An Bord lernt sie alle möglichen absonderlichen Leute kennen, wie Schriftsteller, Ornithologen und sogar Influencer.

Es ist ein wahrer Genuss Arezu Weitholz’ eindringlichen und genauen Sprache zu folgen. Ihre präzisen Schilderungen der Landschaft, der trostlosen Gegenden, des Wetters und die haarscharfen, sarkastischen Beobachtungen der anderen Passagiere führen durch eine Geschichte, die ein universelles Thema hat: Man kann vor seinen Problemen nicht davonlaufen und jedes Ende kann auch einen Neuanfang mit sich bringen.

Melancholisch, sarkastisch, poetisch.

Ganz dringende Leseempfehlung!

– Schindlers Lift –

Darko Cvijetić

Vermutlich wäre ich nie selbst auf „Schindlers Lift“ von Darko Cvijetić gestoßen.

Umso mehr freue ich mich dieses Buch gelesen zu haben und es jetzt vorstellen zu können, denn es ist ein sehr wichtiges Buch zu einem sehr wichtigen Thema.

Es behandelt die unaussprechlichen Gräuel des Bosnienkrieges in der Stadt Prijedor.

Dort kam es in den Neunzigern zu ethnischen Säuberungen und unvorstellbaren Verbrechen, die man nach dem Holocaust kaum ein zweites Mal in Europas Geschichte für möglich gehalten hat.

„Es gibt gar keine Arbeiter mehr. Es gibt nur Serben, Kroaten, Bosniaken und Andere. Keine Arbeiter.“

Der Autor erzählt in 32 Kapiteln von Menschen, die Mitte der Siebziger in zwei Hochhäusern leben. Das Rote beherbergt alle unter einem Dach – „Lehrerinnen, Ärzte neben Bergbauarbeitern, Bosniaken neben Serben, Kroaten…“

Fragmentarisch, poetisch und bewegend schreibt Dvijetić über Krieg, Tod und das Unsagbare.

Fußnoten und Notizen am Rand der Seiten, erleichtern einem das Lesen und leisten Hilfestellung.

„Alle wussten davon, jeder schwieg darüber, alle verschluckten Wüste und Tod und verstummten mit vollem Mund. Nur Šime kam einmal betrunken von der Front und schrie das Hochhaus an, er schrie sich seine Kehle aus dem Leib: Ihr Nachbarn, ihr Menschen, ihr seid eigentlich alle billige Fotzen…ihr habt eure eigenen Nachbarn getötet, ihr kommunistischen Idioten!“

Ein Teil unserer Geschichte, der noch aufzuarbeiten ist, dessen Bevölkerung teilweise nach Deutschland geflüchtet ist und die bis heute versuchen das Trauma zu bewältigen.

Absolute Leseempfehlung!

– Liebwies –

Irene Diwiak

Die #no20 in der #diogenesbacklistlesen Gruppe ist „Liebwies“ von Irene Diwiak.

Das Besondere an dieser Leserunde ist, dass die Autorin mit einsteigt, sich an den Diskussionen beteiligt und für den Abschluss ist auch noch eine Video-Konferenz geplant. Ich freue mich sehr!

Die Geschichte beginnt in Liebwies, einem so winzigen Dorf, dass es auf der Landkarte praktisch nicht existiert.

Dort wird Gisela (Liebwies) von dem renommierten Musikexperten Wagenrad „entdeckt“ und soll nun in Wien zum Star aufgebaut werden. Der Haken: Gisela ist zwar betörend schön, allerdings ganz und gar talentlos was das Singen betrifft.

Nachdem Christoph Wagenrad endlich feststellt, dass Gisela völlig ungeeignet ist, versucht er sie dennoch zu fördern.

Gisela entwickelt sich immer mehr zur selbstverliebten Sängerin.

Derweil in Wien: Schriftsteller August Gussendorff, der sich selbst in den höchsten Tönen lobt und von seiner eigenen Brillanz als Opernkomponist überzeugt ist, heiratet die unscheinbare, doch überaus talentierte Komponistin Ida. Als fabelhafter Ehemann kann er das natürlich nicht dulden und verbietet ihr weiterzumachen. Ida komponiert dennoch heimlich weiter.

Nun kommen Gisela und Gussendorff zusammen. Er soll eine Oper schreiben, um ihr zu Weltruhm zu verhelfen. Nachdem er selbst nicht einmal ansatzweise etwas von Wert zu Papier bringt, bedient er sich selbstverständlich an den Kompositionen seiner Frau.

Mir gefällt dieses bissige, unterhaltsame Debüt sehr. Irene Diwiaks Roman strotzt nur so von Spott, falschem Glanz und ist Satire durch und durch. Die Kritik am Kulturbetrieb ist herrlich spitzfindig und klug.

Viele Wendungen und überzeichnete Figuren haben das Buch für mich zu einem stimmigen Leseerlebnis gemacht.

Unterhaltsam, spannend und klug.

– Lesemonat November 2020 –

Jetzt bin ich bereit für den Monatsabschluss und liste nochmal die Bücher im November auf:

  • Fatou Diome – Ketala
  • Gabriel Josipovici – Wohin gehst du, mein Leben?
  • Maria Isabel Sánchez Vegara – Little People, Big Dreams – Hannah Arendt
  • Mercedes Spannagel – Das Palais muss brennen
  • Thilo Krause  – Elbwärts
  • André Hille – Das Rauschen der Nacht
  • Don DeLillo – Die Stille
  • Felix Schmidt – Amelie
  • Martyna Bunda – Das Glück der kalten Jahre

Meine Highlights im November:

– Das Glück der kalten Jahre –

Martyna Bunda

Dieses Buch habe ich von Anfang bis Ende genossen!

Die Geschichte ist in einem kaschubischen Dorf verortet.

Dort lebt Rozela mit ihren drei Töchtern Gerta, Truda und Ilda.

Diese vier starken, klugen Frauen führen ein selbstständiges, unabhängiges Leben in ihrem Haus in Dziewcza Góra.

So meistern sie die Entbehrungen des Krieges, politische Probleme wie den Kommunismus, der noch sehr lange bestehen soll und den oft schwierigen Alltag mit ihren Ehemännern oder Kindern. Immer wieder trennen sie sich räumlich, finden aber auch oft wieder im Elternhaus zusammen.

Ich feiere dieses Buch sehr stark. Nicht nur, weil meine polnischen Wurzeln durchschlagen, ich vor meinem geistigen Auge die Orte auf der Landkarte sehen konnte und die Namen der Protagonisten oder die Städte aussprechen kann. (In einigen habe ich selbst Verwandtschaft)

Vielmehr auch wegen der leidenschaftlichen Beschreibungen dieser stolzen, charakterstarken Frauen, die mich sehr an meine Mutter und Großmutter erinnern, sich nicht unterkriegen lassen und ihr Leben in die Hand nehmen.

Den Ton, den Martyna Bunda in ihrem Roman anschlägt, kenne ich von meiner Familie sehr gut. Das Beste aus dem Leben zu machen, sich von Krisen nicht unterkriegen zu lassen und auch in den schwierigen Zeiten das Gute nicht zu übersehen.

Führe Dein Leben mit einem Partner, aber lass es ihn nicht übernehmen.

Meine Mutter verwendete immer ein Sprichwort: „Der Mann ist der Kopf; die Frau ist der Hals; die den Kopf dreht wie es ihr passt.“

Ein kluges, manchmal trauriges und starkes Debüt!