Michéle Akli hat Frankreich verlassen, um mit ihrem Ehemann Brahim in seiner Heimat Algerien zu leben. Zusammen mit ihrem zehnjährigen Sohn Erwan wohnen sie in der Hauptstadt Algier.
Michéle fühlt sich leer, unvollkommen und hat Alkoholprobleme. In ihrer Melancholie beginnt sie Tagebuch zu schreiben. Sie schreibt über die langen Tage in den 70er Jahren ohne eine Aufgabe, über die Probleme für zugereiste Franzosen nach der Unabhängigkeit. Die Atmosphäre im Land ist angespannt und das Zusammenleben mit den Einheimischen ist von Misstrauen geprägt Ihre Gefühle für Brahim sind mittlerweile erloschen, vielmehr verspürt sie Mitleid. Erwan ist alles was ihrem Leben ein wenig Sinn zu geben scheint. Als Erwan eines Tages seine Mitschülerin -Bruce- mitbringt, reagiert Michéle sofort mit Eifersucht und Ablehnung auf die Teenagerin. Zu groß ist die Angst, jemand anderes könnte ihr die Liebe ihres Sohnes wegnehmen. Bruce wird zu ihrem Hassobjekt an dem sie innerlich ihren Frust abarbeiten kann. Catherine, Bruce’ Mutter, hingegen wird zum Sinnbild ihres Verlangens. Die Französin stellt alles dar, was Michéle sein möchte und scheinbar nicht erreichen kann.
Dieses Buch ist so schwer in Worte zu fassen. Die sinnlichen, plastischen Beschreibungen sind so gewaltig, so bildhaft. Die Gedankenwelt der Protagonistin wirkte regelrecht verstörend auf mich. Die Beschreibungen ihrer besitzergreifenden Gefühle für ihren Sohn fühlten sich einfach nur unangenehm an. Eine trinkende, getriebene Mutter ohne Aufgabe die ihr Umfeld kommentiert. Die politische Situation nimmt keinen direkten Platz in dem Roman ein. Vielmehr bleibt die angespannte Stimmung latent unter der Oberfläche und wirkt dennoch nach.
Übersetzung aus dem Französischen von Nathalie Rouanet
Wenn ich nur einen Satz über -Elsterjahre- von Charlie Gilmour sagen dürfte, dann wäre es: “Leute, lest dieses Buch, sonst fehlt Euch etwas im Leben!”
“Wenn Yanas Schwester das kleine Wesen nicht aufgehoben hätte, wäre es nicht mehr am Leben. Und wenn Yana es nicht mitgebracht hätte, sähe mein Leben wirklich sehr, sehr anders aus.”
Die Rede ist von einer Elster, die das Leben von Schriftsteller Charlie völlig auf den Kopf stellt und von ihm aufgezogen wird. Während er also als eine Art Ersatzvater tagein tagaus Würmer an das Elsterküken verfüttert, welches er liebevoll Benzene nennt, denkt er über die schlechte Beziehung zu seinem eigenen Vater Heathcote Williams nach.
Der Poet hat ihn und seine Mutter verlassen, als er noch ganz klein war. Obwohl Charlie ein gutes Verhältnis und eine Vaterfigur in Stiefvater David Gilmour hat, hadert er dennoch mit der Ablehnung durch seinen biologischen Vater Heathcote.
Als Poet erfolgreich, als Mensch äußerst exzentrisch und verstörend narzisstisch, hat dieser schlichtweg kein Interesse am (Innen-)Leben seiner Kinder teilzuhaben.
Die Schuldgefühle zu gewöhnlich für den intellektuellen, brillanten Vater und deswegen verlassen worden zu sein, treiben Charlie bereits in jungen Jahren in Depressionen, die Drogensucht und letztendlich ins Gefängnis. Mithilfe der Familie schafft er den Absprung.
Mit Ende 20 lebt er mit Yana in einer glücklichen Beziehung, sie planen zu heiraten und Kinder zu kriegen. Charlie trägt schwer an den Altlasten mit Heathcote und zweifelt, ob er bereit dafür ist. Er hat Angst und befürchtet, dass er als Vater ebenso versagen würde.
Benzene hingegen wächst und gedeiht. An Auswildern und Freilassen ist kaum zu denken. Die Elster fühlt sich sichtlich wohl und sorgt mit ihren Aktionen regelmäßig für Chaos.
Es ist ein bisschen schwer über dieses Buch zu sprechen, da es so ganz anders und besonders ist. Die Passagen in denen es um die Vater-Sohn Beziehung um Charlie und Heathcote geht sind sehr hart, sehr bewegend und schmerzhaft. Hingegen lockern die täglichen “Abenteuer” mit Benzene die Stimmung. Die zutrauliche Elster wird auch bei Charlies Familie wohlwollend akzeptiert. Richtig krass ist auch, dass die prägende Beziehung zu Stiefvater David Gilmour immer wieder thematisiert wird, jedoch nie erwähnt wird, wie berühmt er ist. (Gitarrist/ Pink Floyd).
Einfach großartig!
Dieses Leseerlebnis wird mich lange wenn nicht für immer begleiten. Die deutsche Übersetzung von Christel Dormagen ist unglaublich traurig, sensibel und warmherzig. Ohne die englische Originalfassung gelesen zu haben, behaupte ich, dass die Übersetzerin hier meisterhaft gearbeitet hat.
“Ich weiß nicht, ob ich mir je sicher sein werde, dass die Entscheidung richtig war. Vielleicht geht das auch gar nicht. Woher soll man das auch wissen? Man hat entweder Kinder, oder man hat keine. Niemand macht beide Erfahrungen.”
In ihrem zweiten Roman beschäftigt sich Verena Kessler dem emotionsgeladenen Thema Frausein und Mutterschaft.
Muss jede Frau einmal Mutter werden, oder ist es nicht vielmehr vernünftig angesichts der Klimakrise und Überbevölkerung keine Kinder mehr in die Welt zu setzen? Sind alle Mütter denn automatisch glücklich? Ist ein Leben ohne Kinder gleich sinnlos?
Verena Kessler schreibt über vier Frauen, deren Leben sich in irgendeiner Form mit der Mutterschaft auseinandersetzt.
Da wäre die Journalistin Sina, die mit Partner Milo seit geraumer Zeit verzweifelt versucht schwanger zu werden. Oft fragt sie sich, ob sie überhaupt als Mutter geeignet wäre und ob sie die zahlreichen Versuche nur Milo zuliebe mitmacht. Würde er auch ohne Kinder mit ihr zusammenbleiben?
Sina interviewt die Lehrerin -Eva- Lohaus, eine Lehrerin, die die Position vertritt, man dürfe keine weiteren Kinder mehr bekommen um die stetige Bedrohung der Klimakrise und der knapper werdenden Resourcen entgegenzuwirken. Ob man die Krise überhaupt noch verhindern kann ist auch für sie fraglich. Social media und die Presse starten eine Hetzjagd auf die “Kinderhasserin”. Sie flieht aufs Land und begegnet der Nachbarstochter. Durch die täglichen Treffen für die Mathenachhilfe ist Eva nicht plötzlich bekehrt, doch lernt sie ihre Ansichten und Überzeugungen etwas vorsichtiger und sensibler vorzutragen.
Mona ist Mutter eines Sohnes, sowie von Zwillingsmädchen und die ein Jahr ältere Schwester von Sina. Sie liebt ihre Kinder und Familie, aber fühlt sich vom Leben abgehängt. Das Muttersein verlangt ihr alles ab. Immer wieder fragt sie sich wo etwas für sie selbst in diesem Leben bleibt. Nachdem Milo bei Sina ausgezogen ist, fliegen die Schwestern gemeinsam in den dringend benötigten Urlaub, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen.
Diese Frau bleibt namenlos. Ihr Kind verstarb nach schwerer Krankheit. Auch nach 6 Jahren ist sie nicht in der Lage ins Leben zurückzufinden. Der Schmerz will nicht vergehen. Die Arbeit im Sekretariat einer Schule (an der Eva Lohaus unterrichtet hat) hat sie aufgegeben. Seitdem wechselt sie ihre Jobs und versucht irgendwie weiterzumachen.
Ich hatte ein wenig Angst davor dieses Buch zu lesen. Angst davor, wie sehr es mich an einer verwundbaren Stelle treffen könnte. Und ja, manchmal hat es gepiekst. Aber dennoch ist es ein großartiges Buch, welches nicht anprangert und keine Stellung bezieht.
Vielmehr ist es eine Art Anstupsen in Richtung einer Brücke des gegenseitigen Verständnisses. Nicht jede Frau möchte Mutter sein. Nicht jede Mutter ist immer nur von Glück erfüllt. Nichts davon ist falsch und die Entscheidung muss jede Frau für sich treffen.
Vor allem Sina und ihre Schwester Mona haben es mir angetan. Hierzu gibt es erstaunlich große Parallelen zu meinem Leben. Das Schicksal der vierten Frau ist denke ich die größte Angst eines jeden Elternteils. Hier hatte sich den gesamten Abschnitt über eine schwere Traurigkeit über mich gelegt. Wie macht man weiter, wenn man zwar Mutter, aber ohne Kind ist.
Ein großartiger Roman den ich nur empfehlen kann. Für einen sensibleren Dialog bei diesem komplexen Thema.
“Wenn du auf diesem Planeten nur ein Baum ohne Wurzeln bist, wie weit kannst du deine Äste strecken?”
Für -Unser Deutschlandmärchen- wurde Dinçer Güçyeter mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 ausgezeichnet.
Sein Roman ist nicht einfach irgendeine Geschichte über Gastarbeiterfamilien. Es ist seine Familiengeschichte, die Erfahrungen und Leben vieler Frauen, deren Träume oft der harten Realität weichen mussten.
Als Fatma mit Yilmaz verheiratet und als Gastarbeiterin nach Deutschland geschickt wird, ist ihr noch nicht klar, wie hart und entbehrungsvoll ihr Leben sein wird.
Schon bald ist sie diejenige, die die Familie mit mehreren Jobs ernährt, während Yilmaz jeglicher Anstrengung aus dem Weg geht und die Familie bei sich jeder möglichen Gelegenheit zusätzlich verschuldet.
Als nach langer Wartezeit doch endlich ein Kind kommt (Dinçer) setzt Fatma alle Hoffnungen und Erwartungen in ihn, damit er zu dem verantwortungsbewussten Mann in ihrem Leben, der Yilmaz nie gewesen ist.
Doch Dinçer sieht und fühlt oft anders. Sein Weg wird ein anderer sein.
Für mich ist es eine unvergessliche, nachhaltige Leseerfahrung. Poetisch aber gleichzeitig sehr direkt vermittelt uns Dinçer Güçyeter die Gefühle einer ganzen Einwanderergeneration und deren Nachkommen.
Ich habe so viele Parallelen zu meinen eigenen Wurzeln gefühlt. Eine Losgelöstheit, da man in der alten Heimat als “Die aus dem reichen Deutschland” gilt, während man hier mit harter Arbeit gerade so über die Runden kommt. Man lebt in einer Zwischenstation.
Dort ist man Deutsche:r, hier ist man fremd. Wo ist der eigene Platz und welche Herausforderungen muss man bestehen um dazuzugehören?
Ein großartiges Buch, welches unbedingt gelesen werden sollte. Empfehlung!
Lesung mit Steven Uhly zu „Die Summe des Ganzen“ in der Buchhandlung Dombrowsky
Die Stimmung zu Beginn der Veranstaltung ist gespannt.
Begrüßt werden wir durch ein Mitglied des Betroffenenbeirats der Diözese Regensburg, der den Abend mit folgenden Worten eröffnet:
„Wir sind keine Opfer – wir sind Betroffene.“
Die Mitglieder des Betroffenenbeirats sind allesamt Missbrauchsopfer durch Angehörige der katholischen Kirche. Ihr erklärtes Ziel ist es Opfern von Missbrauch zur Seite zu stehen, sie zu begleiten und parallel dazu der katholischen Kirche den Kampf anzusagen und so für ein Umdenken bezüglich der unaussprechlichen Geschehen zu bewirken, sodass die Täter einer gerechten Strafe zugeführt werden.
Anschließend tritt Herr Ulrich Dombrowsky, Inhaber der Buchhandlung Dombrowsky, auf die Bühne und richtet einige Worte an uns, bevor er Herr Uhly hinaufbittet.
Der Autor Steven Uhly, geboren 1964 in Köln, studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien und übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen.
Nachdem er Platz genommen hat bittet er zu allererst darum, dass das Licht ein wenig gedimmt wird, da er sonst die Gesichter des Publikums nicht sehen kann.
Anschließend fragt er uns Zuhörer:innen wer denn schon alles sein Buch gelesen hat. Einige Hände schießen in die Höhe, doch auch viele nicht.
Herr Uhly beschließt die Geschichte von vorne zu beginnen, denn dies haben ihm seine Kinder so beigebracht. Geschichten beginnen nicht in der Mitte oder am Ende, sie beginnen immer von vorne.
Das Thema des Buches ist nicht leicht. Es geht um Missbrauch in der katholischen Kirche. Vorfälle die seit Jahren immer wieder in den Medien zu hören, zu sehen und zu lesen sind. Es ist die Geschichte von Lucas Hernandez, der sich in einer ihm fremden Gemeinde in Madrid dem Padre Roque de Guzmán anvertraut. Der reuige Sünder sucht regelmäßig dessen Beichtstuhl auf um von seinen unkeuschen Gedanken gegenüber seinem minderjährigen Nachhilfeschüler Armando zu erzählen.
Immer wieder ertappe ich mich, wie ich das Publikum beobachte. Auch in Regensburg gab es einen großen Skandal um ungesühnte Missbrauchsfälle im Knabenchor der Regensburger Domspatzen. Auch hier wurde vertuscht, gelogen, Täter geschützt und Ermittlungen behindert.
Die Lesung ist beendet – die Gesprächsrunde eröffnet.
Auf die Frage wie die Idee zu dem Werk entstanden ist, erklärte Uhly, dass die jahrelange Berichterstattung mitunter einen Grundstein für die Entstehung gelegt hat, aber vielmehr noch die Lebensbeichte von einem der besten Freunde. Dieser offenbarte sich ihm eines Tages. Er wurde in Spanien als Kind selbst Opfer von sexuellem Missbrauch durch Kirchenvertreter. Durch die intensive Auseinandersetzung damit, wie groß die Anstrengung seines Freundes war, wieviel Kraft er aufwenden musste und welchen Kampf er ausgefochten hat um ansatzweise normal leben zu können, war letztendlich der Auslöser und Startschuss für „Die Summe des Ganzen“. Aus diesem Grund wurde die Handlung des Romans nach Madrid verlegt. Besagter Freund war auch einer der ersten Leser des fertigen Buches.
Weiter geht es mit der Frage, wie Uhlys Reaktion auf die Offenbarung des Freundes war. Dies beantwortet der Autor damit, dass er es als großen Vertrauensbeweis verstand.
Doch er konnte und kann dem Freund nicht helfen — hat ihm zur Therapie geraten. Hier spricht Uhly erstaunlich offen über seine eigenen Erfahrungen, da er selbst sich seit Jahren in Therapie begebe, da der Punkt kommt, wo Freunde keine Hilfe leisten können, da es oftmals entlastender sei, wenn eine –fremde- Person die Fragen stellt bzw. einen erzählen lässt. Freunde können nicht immer helfen, weil sie oftmals direkt Lösungen bieten wollen.
Steven Uhly versteht sich nicht direkt als Kirchenkritiker. Oftmals wird das Zölibat als Erklärung für die Gräueltaten verantwortlich gemacht. Religion sei laut ihm aber eine Stütze in der Gesellschaft, doch seine Meinung und Empfehlung zum Thema kirchliche Laufbahn formuliert er ganz konkret: alle Anwärter:innen sollten therapeutisch geprüft werden, warum sie etwas so Zentrales durch das Zölibat ausklammern möchten. Sind sie dafür geeignet ein ganzes Leben lang?
Ebenso verurteilt er die Verjährungsfrist. Sexueller Missbrauch der im Kindesalter geschah ist oftmals verjährt wenn der Erwachsene die Erlebnisse erst richtig einordnen kann.
„Hier muss unbedingt eine Gesetzesänderung vorgenommen werden“, so Uhly. „Es verjährt im Opfer nicht. Sollte es dann gesetzlich verjähren?“
“Lutz hat mir einen furchtbaren Brief geschrieben — acht Seiten lang Freiheit und democracy und aufkeimender Hass gegen eine Schwester, die sich einem verabscheuungswürdigen Regime verkauft. Ich wage mich kaum noch an meine >>Geschwister<<.
(Brigitte Reimann, HOY 28.09.1961)
Als ich von @aufbau_verlage zum 50. Todestag von Brigitte Reimann gefragt wurde, ob ich Interesse hätte die Werke der mir bis dahin unbekannten Autorin zu lesen, habe ich nicht gewusst wie sehr mich ihre Worte beschäftigen und in mir nachhallen würden.
Sie schreibt darin über die junge Malerin Elisabeth Ahrendt, aus bürgerlichen Verhältnissen abstammend, die parteilos ist und in einem Kombinat arbeitet. Obwohl sie über kein Parteibuch verfügt, glaubt sie doch an Sozialismus und den Staat. Einige Jahre zuvor hat ihr älterer Bruder Konrad das System verraten und ist in den Westen abgehauen. Der Schmerz darüber sitzt noch immer tief.
Eines Abends zieht sie ihr anderer Bruder Uli ins Vertrauen und erzählt ihr, dass er in zwei Tagen ebenfalls nach Westdeutschland aufbricht. Er hat es leid mit ansehen zu müssen, wie er auf der Karriereleiter ein ums andere Mal überholt wird, nur weil er nicht der Partei angehört.
Elisabeth ist schwer getroffen und will nicht noch einen Bruder verlieren. So entspinnt sich eine heftige Diskussion zwischen den Geschwistern, in der Uli seiner Schwester das Scheitern Ostdeutschlands vor Augen führen will, während Elisabeth das Grundprinzip desgleichen verteidigt und ihn dazu aufruft trotz der politischen Hindernisse durchzuhalten anstatt zu gehen. Doch damit nicht genug — in ihrer Verzweiflung wendet sie sich an ihren Freund Joachim…
„Ich kann mich nicht erinnern, das Buch einer Frau in deutscher Sprache gelesen zu haben, in dem die Sehnsucht nach Liebe mit einer solchen Sinnlichkeit und Intensität gezeigt wurde.“
Marcel Reich-Ranicki, LQ/ ZDF über ihre Tagebücher. (1997/1998 im Aufbau-Verlag Berlin, Angela Drescher)
Hier muss ich Marcel zitieren — auch wenn ich nicht in allen Dingen seine Meinung teile, dann definitiv in Bezug auf Reimanns Schreiben.
Dem Fund von handschriftlichen Aufzeichnungen der Autorin in ihrem ehemaligen Wohnhaus in Hoyerswerda (2022) haben wir zu verdanken, dass es nun möglich war den Roman in ungekürzter und unzensierter Fassung neu zu veröffentlichen.
Zu dem Roman habe ich mir ebenfalls “Ich bedaure nichts” von Brigitte Reimann schicken lassen. Das Tagebuch hat mir einen noch besseren Eindruck in das Innenleben der Autorin gewährt.
Die autofiktionale Geschichte um das Geschwisterpaar ist Zeugnis einer Zeit, in der die Grenze nicht nur ein Land sondern auch zahlreiche Familien und Freunde gespalten hat, über Vertrauen aber auch über das Schweigen nach dem zweiten Weltkrieg.
Eine Frau, die schon damals den Mut hatte über die DDR zu schreiben und sie zu kritisieren.
Leider hat sie die Wiedervereinigung nicht mehr erlebt. Brigitte Reimann starb im Alter von 39 nach jahrelanger schwerer Krebserkrankung.
Von Judith Hermann über das Schreiben lesen. Über ihre Art die Dinge zu sehen und zu Papier zu bringen.
“Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.”
Dadurch können wir hier eine biografische Fiktion oder fiktive Biografie genießen. Wir begegnen ihrer Freundin Ada, hören von ihren Großeltern und begleiten Sie zu ihren Sitzungen bei ihrem Therapeuten Doktor Dreehüs.
Dennoch verfolgt die Handlung hierbei kein Ziel sondern stellt vielmehr Etappen und Stationen ihres Lebens dar.
Das was sie lebt, schreibt sie.
Wie bereits in -Daheim- hat mich Frau Hermanns einzigartiger Schreibstil in seinen Bann gezogen, meine Gedankenwelt angestupst.
Sie hat dieses Händchen für Untertöne, für das Dahinter und auch das Weglassen.
“Was genau ist der Unterschied zwischen Ausdenken, Träumen und Übertreiben. Das Eigentliche des Traumes ist nicht sein Inhalt, seine Handlung, sondern das Gefühl, mit dem er geträumt wird, sein Stoff im haptischen, im empfindsamen Sinn. Dieser Stoff bleibt, wenn du wach wirst.”
Ich freue mich schon sehr auf die baldige Lesung in Regensburg zu diesem genialen Buch.