– Unterwegs nach Chevreuse –

Patrick Modiano

Nachdem ich vor Jahren Patrick Modianos -Im Café der verlorenen Jugend- aufgesogen habe, war ich auf seinen neuesten Roman -Unterwegs nach Chevreuse- mehr als gespannt.

Jean Bosmans, Schriftsteller, lernt die geheimnisvolle Camille kennen, deren Spitzname “Totenkopf” lautet. Sie führt ihn in ihre Welt ein und stellt ihm die ein oder andere Person aus ihrem zweifelhaften Umfeld vor.

Zusammen mit einer weiteren Bekannten namens Martine Haywards, machen sie sich auf den Weg ins Chevreuse Tal um ein Haus zu besichtigen, welches Martine mieten möchte.

Jean kennt diesen Ort und auch dieses Haus. Er erinnert sich an seine Kindheit, die er darin verbracht hat. Kann dies alles Zufall sein?

Ein rätselhaftes Werk welches Modiano hier abgeliefert hat. Ich hatte selten so eine Mühe der Handlung zu folgen wie bei diesem Buch und das, obwohl es nur gut 120 Seiten hat. Es ist ein Treiben durch die Vergangenheit, die Gegenwart, durch Realität und Fiktion. Handlungstechnisch passiert gar nicht viel. Immer wieder habe ich mich ertappt den Sinn des Gelesenen zu hinterfragen. Ob sich die Figur Bosmans alles nur einbildet oder habe ich als Leserin etwas übersehen…ich spielte in Gedanken mehrere Optionen durch, was passiert sein könnte.

Selbst die Auflösung hat für mich persönlich nicht den Schleier gelüftet, den das gesamte Leseerlebnis umhüllt.

Ein dichtes, reduziertes Büchlein, welches einen an der eigenen Wahrnehmung zweifeln lässt. Und vielleicht ist es auch das, was Patrick Modiano mit diesem Roman bewirken wollte.

– Die Summe des Ganzen –

Steven Uhly

In Hortaleza, einem Vorort Madrids, verrichtet der 50jährige Padre Roque de Guzmán seine Pflicht indem er den Menschen der Gemeinde die Beichte abnimmt und die Absolution erteilt.

Normalerweise (er-)kennt er seine Schäfchen und hat es meistens mit dem prügelnden Ehemann oder den Ehebrechern zu tun, doch als eines Tages ein Fremder auf der anderen Seite Platz nimmt, horcht er auf.

Hinter der Trennwand des Beichtstuhls sitzt ein Nachhilfelehrer, der zuerst mehrmals während der Beichte die Flucht antritt, bevor er wagt über seine Sünden zu sprechen.

Nach mehreren Anläufen gesteht der bibelfeste Lucas Hernández, dass er sich zu seinem zehnjährigen Schüler Armando hingezogen fühlt. Dieser singt zufälligerweise auch im Knabenchor unter der Leitung Guzmáns. Bisher ist es nur ein Begehren, doch dem Sünder scheint der Kampf gegen das Verlangen von Tag zu Tag unerträglicher, der Drang nachzugeben immer verlockender.

Padre de Guzmán rät ihm sofort den Kontakt zu dem Kind abzubrechen. Mit allen erdenklichen theologischen Ratschlägen, versucht er dem Beichtenden den rechten Weg zu weisen.

Bei den nahezu täglichen Beichtbesuchen Lucas’ kommt es zu theologischen Wortwechseln par excellence. Der Sünder leidet Qualen aber versucht die bevorstehende Tat gleichermaßen zu romantisieren. Der Priester scheint den Sünder zu verstehen, ist jedes Mal aufgeregt, wenn er dessen Schritte näher kommen hört. Warum liegt ihm soviel daran Lucas’ zu bekehren…langsam treten die Wahrheit und wahren Beweggründe des Padre ans Licht. Er ist nicht grundlos nach Hortaleza versetzt worden…

Ein zutiefst aufwühlender, mitreißender Roman. Steven Uhly spricht schonungslos die skandalhafte Auseinandersetzung mit Kindesmissbrauch in der Kirche an. Es gibt nur Lippenbekenntnisse, Vertuschung und Versetzungen. Von Gerechtigkeit für die vielen Opfer kann keine Rede sein. Das Buch bleibt durchgehend spannend, die Diskussionen im Beichtstuhl kraftvoll, die Figuren durchdacht. Immer wieder hält man den Atem an, sobald Lucas im Beichtstuhl Platz nimmt. Hat er sich an Armando vergangen? Man wagt es kaum weiterzulesen, bleibt aber dennoch gefesselt und möchte den armen Jungen irgendwie beschützen.

Das mutige Buch eines mutigen Autors. Steven Uhly zeigt uns, dass wir nicht wegsehen dürfen, dass es nötig ist Ungeheuerliches auszusprechen und darüber das Verleugnung und heimliche Entschädigungszahlungen keine Lösungen sind.

Ganz klare Leseempfehlung.

– Die Gewalt der Hunde –

Thomas Savage

Ein gewaltiges Drama um zwei ungleiche Brüder in der ländlichen Weite Utahs.

Die gut situierten Brüder Phil und George Burbank besitzen eine Ranch, die Geschäfte laufen gut, die Arbeit ist hart und geht nie aus.

Phil ist ein kreativer Geist, war auf der Universität, zeigt reges Interesse an Literatur und Musik, ist aber ein boshafter Menschenfeind, während George eher einfach gestrickt ist, sein Studium damals abgebrochen hat, nur wenig Humor hat und die meiste Zeit wortkarg ist..

Im Herbst treiben sie ihren Trail nach Beech um wie jedes Jahr Rinder zu verkaufen.

Auf der Strecke kehren sie nach dem Viehtrieb in “The Red Mill” ein. Rose Gordon, die Besitzerin des Wirtshauses, muss mitansehen wie ihr halbwüchsiger Sohn Peter von Phil wegen seiner Papierblumen niedergemacht wird. Peter ist ein intelligenter wenn auch sehr zurückhaltender, in sich gekehrter junger Mann, der auf Grund seiner schwächlichen Statur häufig das Opfer von Spott ist.

George besucht nach dem Vorfall immer wieder die Red Mill und versucht sich Rose anzunähern. Schließlich macht er ihr einen Heiratsantrag.

Phil wird durch die heimliche Heirat von George und Rose völlig überrumpelt.

Als Rose auf die Ranch zieht, beginnt Phil sie zu drangsalieren. Peter bleibt derweil in Herndon wo er weiter zur Schule geht. Als George eines Tages den Gouverneur und dessen Frau zum Dinner einlädt, setzt Phil Rose immer mehr zu. Während sie auf dem Piano etwas für besagten Abend einübt, fährt Phil ihr mit dem Banjo immer wieder in die Parade um ihr aufzuzeigen, wie unzureichend ihr Spiel ist.

Rose versagt beim Dinner.

Als Peter nach Ende des Schuljahres für die Ferien auf die Ranch kommt, beginnt Phil auch ihn zu quälen. Die Attacken gegen Rose hinterlassen ihre Spuren. Rose ist mittlerweile dem Alkohol verfallen, was nur noch mehr Zunder für Phils Tiraden ist.

Er entwickelt einen Plan um Rose endgültig loszuwerden und beschließt sich mit Peter anzufreunden…

Ein psychologisches, literarisches Meisterwerk. Spannend führt uns Thomas Savage in das raue Leben der 1920er auf dem Land ein, die harte Arbeit im Staub und erzählt von einem Tyrann, der so grausam mit den Gefühlen spielt wie man es nur selten erlebt.

Ich habe auch die Verfilmung von Jane Campion mit Benedict Cumberbatch, Jesse Plemons und Kirsten Dunst gesehen, welche mich ebenso gefesselt hat, wie der Roman selbst auf dem alles basiert.

Auf jeden Fall ist es mehr als lesens- und sehenswert!

Ich widerspreche nur bei einem Punkt. The Guardian irrt sich. Besser als #stoner ist es nicht.

– Vor aller Augen –

Martina Clavadetscher

Wir beobachten sie wie sie uns beobachten. Stumm blicken sie -Vor aller Augen- aus ihren Rahmen auf uns während wir darüber diskutieren, was der Künstler uns mit dem Werk sagen, was er ausdrücken wollte.

Die Schweizer Buchpreisträgerin Martina Clavadetscher (Die Erfindung des Ungehorsams) hat sich mit ihnen ausgetauscht, hat ihre Geschichten aufgeschrieben, hat die historischen Fakten dort ergänzt, wo es nötig war.
Nun sind sie nicht mehr durch Männerhand in der Zeit eingesperrt. Sie erzählen wie sehr sie geliebt haben oder gelitten, wie sehr sie die immer gleichen Fragen anöden, wie wütend sie sind im Schatten des Künstlers auf Öl festzuhängen und namenlos zu sein.

Ein originelles Buch und eine großartige Idee einer kühnen Autorin. Der @unionsverlag hat mich mit diesem Goldstück wieder einmal abgeholt.

Übrigens das perfekte Weihnachtsgeschenk für Kunstinteressierte!

– Geiseln –

Nina Bouraoui

“Ich bin nie zusammengebrochen, niemals, auch nicht, als mein Mann vor einem Jahr gegangen ist. Ich habe standgehalten. Ich bin stark, Frauen sind stark, stärker als Männer, sie verinnerlichen das Leid. Für uns ist Leiden normal. Es ist Teil unserer Geschichte, unserer Geschichte als Frauen. Und es wird noch lange so sein. Ich sage nicht, es ist gut so, aber ich sage auch nicht, es ist schlecht. Es ist sogar von Vorteil: Wir haben keine Zeit, lange zu jammern. Und wenn wir keine Zeit haben, gehen wir zum Nächsten über. Erledigt. So stören wir niemanden.”

Sylvie Meyer hat lange Zeit niemanden gestört. Die Trennung von ihrem Ehemann hat sie wortlos hingenommen. Als er sie verließ hat sie weder geweint, noch sonst etwas an sich herangelassen. Er sagte, er geht und sie hat Frühstück für ihre Söhne gemacht. Zurück zur Tagesordnung.

Sie steht voll im Berufsleben, fühlt sich in ihrer Abteilung wohl, mag ihre Mitarbeiter:innen, die sie “Bienen” nennt und zu denen sie einst selbst gehörte, bevor sie aufgestiegen ist. Doch nun verlangt ihr Chef Victor Andrieu, sie möge sie bespitzeln, überwachen, den Druck erhöhen. Es sollen Listen erstellt werden, welche der Bienen produktiv ist, abliefert und dem Unternehmen loyal gegenüber steht. Auch soll sie festhalten wer nichts taugt, unflexibel und ineffizient ist.

Zu Beginn leistet sie Folge doch langsam regt sich Widerstand in ihr. Das Fass ist voll und am überlaufen. Es wird nicht noch ein Mann seine Macht ausnutzen, ihre Moralvorstellungen und ihr reines Gewissen beschmutzen. Sie will diesen Kreislauf der Gewalt durchbrechen. Diese Gewalt, die immer in der Nähe war, die im Verborgenen gewartet hat, diese Gewalt an deren Existenz sie sich lange nicht erinnern wollte. Doch nun ist damit Schluss. Sie wird ihm zeigen was Angst ist.

Was für ein unglaublich gutes Buch! Die Worte, die Sätze sind in mich hineingeflossen, haben meinen Verstand geflutet. Wie viele Männer kann eine Frau in ihrem Leben ertragen, angefangen mit Vätern, Brüdern bis hin zu Partnern. Das Leben der Ich-Erzählerin scheitert an der Unfähigkeit über Gefühle zu sprechen, aber woher hätte sie dies lernen können?! Die eigenen Eltern haben nie miteinander geredet. Man hat sich arrangiert. Scheidung kam damals nie in Frage. Und so lebt die Protagonistin ohne sich zu beschweren, ohne zu jammern, sie macht weiter, erträgt die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, erfüllt die ihr zugeschriebene Rolle als Mutter, als Ehefrau und als Angestellte – bis sie irgendwann genug hat.

Nina Bourapoui beobachtet genau, lässt die Ich-Erzählerin langsam entfalten, wie es zu all dem kommen konnte. Wie sie zu einer emotionally unavailable person wurde, da sie doch so ein reiches Innenleben hat. Eindringliche Gedanken, kurze prägnante Sätze, die dennoch ausdrucksvoll das Wesentliche einfangen.

Eine schonungslose Charakterstudie. Ein intensives, fantastisches Buch!

– Ein Mann sein –

Nicole Krauss

In -Ein Mann sein- schreibt Nicole Krauss über Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Töchter und Väter. Dabei geht es nur unterschwellig darum, wie es wäre ein Mann zu sein, sondern vielmehr um die Schicksale, Ereignisse und Wahrnehmungen mit denen wir uns alle herumschlagen.

In intelligenten, schlichten Sätzen wird über Beziehungsgeflechte und dem komplizierten Miteinander erzählt.

Teilweise kommt es gar zu surrealen Begegnungen wie die einer Tochter, die die Wohnung ihres verstorbenen Vaters bezieht und dort in des Vaters altem Freund Boaz einen unfreiwilligen Mitbewohner erhält. Nistet dieser sich nur ein oder hat ihr Vater ein letztes Mal für sie gesorgt?

“Ich war nicht vorbereitet auf seinen Tod. Er hatte mich nicht vorbereitet. Meine Mutter war gestorben, als ich drei war. Wir hatten schon mit dem Tod zu tun gehabt und auf unsere Art vereinbart, damit fertig zu sein. Dann hat mein Vater unsere Vereinbarung ohne Vorwarnung gebrochen.”

In -Gebrochene Rippen- geht es um eine jüdische Frau und ihren deutschen Liebhaber, der der festen Überzeugung ist, dass er ein Nazi gewesen wäre, wäre er zu damaliger Zeit geboren.

“In Wahrheit, stimmt sie zu, sei ihr ganzes Gespräch ein Ding der Unmöglichkeit, denn wer auch immer er jetzt war, würde nicht derselbe sein, der er damals gewesen wäre, von verschiedenen Einflüssen seiner Zeit geprägt, und wer auch immer er damals gewesen wäre, der existierte nicht.”

Ich hoffe dieses Buch findet noch viele Leser:innen. Ganz fabelhaft zum Lesen und Nachsinnen.

Übersetzung: Grete Odterwald

Erschienen bei: Rowohlt

– Ein simpler Eingriff –

Yael Inokai

Auf der Station von Krankenschwester Meret werden neue und experimentive neurologische Eingriffe angewandt, um fast ausschließlich Frauen von ihren psychischen “Störungen” wie Wut zu befreien. Merets Aufgabe hierbei ist es, die Patientinnen zu betreuen. Der behandelnde Arzt ruft sie ab und zu in sein Büro um sich mit ihr zu unterhalten. Er sorgt auch dafür, dass sie sich voll und ganz auf die jeweils zu behandelnde Frau konzentrieren kann, indem er die Dienstpläne dementsprechend anpasst. Das die Eingriffe gegen die behandlungsbedürftigen Erkrankungen scheinbar nur ein Mittel sind um der unangepassten Frauen Herr zu werden, scheint Meret hierbei völlig auszublenden.

Sie hält an den starren Regeln und Strukturen im Krankenhaus fest und redet sich ein, dass den Frauen lediglich geholfen wird. Einem Arzt könne sie als Krankenschwester sowieso nichts entgegensetzen, da er es ja besser wissen muss. Außerdem fühlt sie sich geschmeichelt, dass der Arzt sie für diese wichtige Arbeit mit der neuen Methode ausgewählt hat.

Oft denkt sie an ihre unangepasste jüngere Schwester Bibi, die auch immer wieder mit ihrem Umfeld aneckt. Die Kindheit der beiden und ihres Bruders Wilm war durch Gewalt und gnadenloser Strenge des Vaters geprägt. Während Meret und Wilm sich angewöhnt haben, nichts zu hinterfragen und sich unterzuordnen, hat Bibi dies nie geschafft und bereist seitdem die Welt.

Als sie eine neue Zimmernachbarin erhält und sich schon bald in sie verliebt, verändert sich einiges. Meret beginnt durch die Gespräche mit Sarah die Arbeit aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Erstmals stellt sie die misogynen Praktiken an den vermeintlich kranken Frauen in Frage. Auch ihre Liebe und Beziehung zu Sarah würde als Abweichung der Norm gelten. Würde man sie beide auch versuchen zu “heilen”?

Schließlich schlägt die Behandlung ihrer Patientin Marianne fehl. Anstatt einer Besserung und Erlösung von der Wut und der Erkrankung, verblasst etwas in Mariannes Augen. Nach der Operation ist sie nie wieder dieselbe. Etwas von ihr ist für immer fort.

Endlich erkennt Meret, dass es hier nicht um Hilfe für diese Frauen geht, sondern vielmehr darum, dass sich deren gut betuchte Familien ihrer Probleme mit den Töchtern oder Ehefrauen entledigen möchten.

Yael Inokai hat hier ein subtiles Kammerspiel um Machtgefüge und gesellschaftliche Erwartungen an Frauen geschrieben. Vieles wird nicht laut ausgesprochen und ist doch sehr leicht zwischen den Zeilen herauszulesen. Die Autorin hat sich stark auf wenige Figuren konzentriert, was die Aussage des Buches umso gewichtiger erscheinen lässt, während schwer abzuschätzen ist zu welcher Zeit und an welchem Ort sich die Geschehnisse abspielen.

Ein brillantes Buch über weibliche Selbstbestimmung, Machtgefälle und gesellschaftliche Erwartungen wie eine Frau zu funktionieren hat.

Absolute Leseempfehlung.

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