– Dshamilja –

Tschingis Aitmatow

Meine Gedanken verweilen seit zwei Tagen bei diesem  literarischen Kleinod.

Dshamilja von Tschingis Aitmatow ist eine knapp 80 Seiten starke Novelle über die Liebe aus dem Jahre 1958.

Erzählt wird die Liebesgeschichte aus der Sicht des 15jährigen Jungen namens Said.

Sein Bruder Sadyk kämpft im Krieg an der Front, sodass seine Schwägerin Dshamilja kräftig anpacken und mit Said die Getreidefuhren zum Bahnhof bringen muss.

Auf den täglichen Fahrten werden sie vom ruhigen, verträumten Danijar begleitet, der ebenfalls im Krieg gekämpft hat und wegen seiner Kriegsverletzungen aus dem Dienst entlassen wurde.

Er gilt als schüchterner Einzelgänger und wird von den Einwohnern des Dorfes nur beiläufig beachtet.

Eines Tages beginnt der wortkarge Danijar auf einer der Touren zu singen. Dshamilja und Said bemerken welchen inneren Reichtum Danijar in sich trägt wenn er über die Liebe, das Leben und das Land singt.

Während Dshamilja und Danijar ihre Liebe zueinander entdecken, wird Said durch Danijars Gesang inspiriert und spürt ein unsägliches Verlangen sich in der Malerei auszudrücken.

“Er war ein zutiefst verliebter Mensch. Aber er war nicht einfach in einen anderen Menschen verliebt — sondern es war eine andere, alles umfassende Liebe zum Leben und zur Erde. Diese Liebe erfüllte ihn ganz, sie klang aus seinen Liedern, sie war sein Leben. Ein gleichgültiger Mensch hätte niemals so singen können, und wenn seine Stimme noch so gut gewesen wäre.”

Ein wunderbares Buch voll der süßen Melancholie. Es kommt völlig ohne SchnickSchnack aus und ist doch so reich an starken, bedeutungsvollen Bildern.

Dieses zarte Erstlingswerk lädt dazu ein es immer wieder zur Hand zu nehmen um es zu lesen.

Übersetzung: Gisela Drohla/ Illustrationen: Stefanie Harjes

– Open Water –

Caleb Azumah Nelson

Ein wunderbarer Debütroman, den ich durchweg empfehlen kann. Wenig Seiten mit sehr viel Inhalt.

Zwei Schwarze Künstler verlieben sich und versuchen ihren Weg gemeinsam zu gehen.

Berührend und poetisch greift Caleb Azumah Nelson Themen wie Identität, Männlichkeit und Liebe auf und wie Beziehungen in einer Welt voller Vorurteile und Gewalt funktionieren. 

Leider noch nicht ins Deutsche übersetzt. Aber ich kann nur stark hoffen, dass daran gearbeitet wird. 

A wonderful debut novel that I can thoroughly recommend. Few pages with a lot of content.

Two black artists fall in love and try to make their way together.

Touching and poetic, @caleb_anelson tackles themes of identity, masculinity, love, and how relationships work in a world of prejudice and violence.

Unfortunately not yet translated into German. But I can only strongly hope that it is being worked on.

– Von einem Sohn dieses Landes –

James Baldwin

Ihr kennt diese Situation: Ihr habt Euch auf einem Gebiet eingelesen, kennt Euch relativ gut aus, könnt dazu gut diskutieren und einen Schwung Bücher ins Gespräch bringen. So weit so gut.
UND DANN kommt eine Autorin oder ein Autor daher und wischt mit ein paar genialen Sätzen und Logik all das mit einer Leichtigkeit eben mal weg.

So ging es mir, als ich “Von einem Sohn dieses Landes” von James Baldwin gelesen habe. Schon im Original war es eine Wucht, doch es nun in der deutschen Übersetzung lesen zu können, versetzte mir nochmal den Todesstoß.
Chapeau Miriam Mandelkow – ich liebe Ihre Übersetzungen von Baldwins Worten und Werken.
Die Sichtweisen auf Richard Wrights “Native Son” oder dem Klassiker “Onkel Toms Hütte” von Harriet Beecher Stowe, die mir Baldwin aufgewiesen hat, hat meine (weiße) Einstellung zu diesen Büchern grundlegend verändert. War ich zuvor der festen Überzeugung hier wirklich etwas über Strukturen des Rassismus zu erfahren, schüttelte er mit ein paar schlichten, aber gehaltvollen Sätzen die Naivität aus meinen Gedanken.

James Baldwin schreibt in seinen Essays über die Identität von Schwarzen Amerikanern, über Rassismus und den immer gleichen Konfrontationen zwischen dem weißen Amerika und ihrer Verunsicherung auf Grund der Schuld, die sie sich in der Vergangenheit aufgeladen hat.
Er erzählt über sich, der Schwarze, homosexuelle Autor, der ein ums andere Mal sein geliebtes Amerika kritisiert, gerade weil er es liebt.
Aber es wäre nicht Baldwin, wenn er nicht auch über sich und sein Aufwachsen in Harlem schreiben würde. Als Stiefsohn eines Baptistenpredigers mit dem es immer wieder Reibereien gab. Wie hart es für die Familie war, die gerade so über die Runden gekommen ist. Wieviel Verantwortung er in jungen Jahren trägt, bis er diese abgibt und nach Paris “flüchtet”. Doch auch dort kann er dem Rassismus und einem komplexen System der Ungerechtigkeit nicht entkommen.

Eine unglaublich aktuelle Lektüre. Prädikat absolut lesenswert.

– Mittelalte Männer –

Richard Russo

Mittelalte Männer von Richard Russo ist die Lektüre, die #dickebüchercamp mit #sommerlese genial verbindet.
Ich hatte riesigen Spaß dieses witzige, groteske und melancholische Werk zu lesen.

Wir begleiten William Henry „Hank“ Devereaux Jr., wie er als Anglistikprofessor und ehemaliger Autor mittleren Alters, an einer kleinen Universität in Pennsylvania für Unruhe sorgt. Unter seinen Kolleg*Innen als ewig witzelnder Störenfried bekannt, genießt er doch einen gewissen Respekt an der Fakultät. Mit seiner Frau Lily lebt er ein beschauliches Leben etwas außerhalb und versucht sich auch sonst soweit es geht aus allem rauszuhalten, was auch nur ein bisschen mit Ernsthaftigkeit und Verantwortung zu tun hat.
Als auf dem Campus die ersten Gerüchte über Budgetkürzungen und Entlassungen die Runde machen, tut er diese zu Anfang noch wie immer als Blödsinn ab, muss sich langsam aber sicher eingestehen, dass dies doch problematischer ist, als er gedacht hatte.
Und dann ist da auch noch das andere Problem — er kann einfach nicht pinkeln.
Hank bleibt nichts anderes übrig als sich der Realität zu stellen und endlich aktiv zu werden.

Ich habe dieses Buch verschlungen! Ich musste an einigen Stellen so laut lachen, dass mich andere Strandbesucher irritiert und/oder belustigt angesehen haben.
Diese humorvolle Charakterstudie eines mittelalten weißen Mannes, der auf #cancelculture und die nicht aufzuhaltende Zukunft prallt.
Sarkastisch und spannend erzählt Russo über den Weg eines selbstgewählten Arschlochs, der gerne unsympathisch ist, ohne es tatsächlich zu sein und der letztendlich die ein oder andere Meinung revidiert.

Absolute Leseempfehlung! 

Übersetzung: Monika Köpfer

– Mein Bruder –

Jamaica Kincaid

Jamaica Kincaid schreibt über ihren Bruder, den sie nicht liebte, den sie fast sein ganzes Leben nicht kannte und erst auf den letzten Metern kennenlernte, bevor er an den Folgen seiner Aids-Erkrankung starb.
Obwohl sie ihn zuletzt als kleinen Jungen gesehen hat und auch sonst kaum noch Verbindungen zu dem Leben in Antigua findet, organisiert sie ein ums andere Mal das AZT für Devon und eilt ihm zur Hilfe.
Das Buch ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen (Familien-) Geschichte der Autorin, die fernab ihrer karibischen Heimat in den USA lebt und schreibt.
Mit Distanz blickt sie auf die Folgen von Kolonialismus, Stigma und Umgang mit HIV-Infizierten/ Aids-Erkrankten in den 90er Jahren und Rassismus.

Übersetzung: Sabine Herting

– Die Gäste –

Katharina Hacker

Nachdem der Rechtsanwalt von Friederikes Großmutter ihr eröffnet, dass sie ein Café in der Pohlstraße geerbt hat, fügt sie sich bereitwillig, kündigt ihre Stelle nach 25 Jahren am Institut für schwindende Idiome und macht sich an ihre neue Aufgabe.

Durch den ehemaligen Inhaber kommt sie zu der polnischen Kellnerin Kasia und ihrem Freund Stislaw. Die drei bauen das Café um und sind bereit mit Wachhund Pollux die ersten Gäste zu empfangen.

Hier entfaltet sich dieses kleine Universum in und um das Café in Schöneberg zu Zeiten der Pandemie. Eine ganz eigene Welt deren Besucher sich aus allen Ecken und mit jeglichem Hintergrund zusammensetzen. Hier treffen sich Zuhälter, ältere Damen, Studenten und Robert, mit dem Friederike eine Affäre beginnt.

Ein anrührendes und skurriles Buch über unsichere Zeiten, Ängste und eine Frau, die mitten in der Pandemie einen neuen Weg einschlägt. Neugierig werden die Gäste unter die Lupe genommen. Vermischt wird alles mit fantastischen, märchenhaften Geschichten in denen selbst die Ratten im Keller Tanzaufführungen geben.

Liebenswert, sonderbar und ein wenig eigen.

– Das Mädchen, das man ruft –

Tanguy Viel

Als der ehemals gefeierte Boxer Max Le Corre seinen Arbeitgeber um Hilfe für seine 20 jährige Tochter Laura bittet, kann er sich wohl kaum ausmalen, wozu das führt.

Der Bürgermeister Quentin Le Bars verhilft der hübschen Laura zu einer Wohnung und Arbeit, aber bereits mit Hintergedanken, wie sie sich erkenntlich zeigen kann.

Laura hat die Schule hingeworfen um als Fotomodell in Rennes zu arbeiten. Dieser Traum ist schnell zu Bruch gegangen und so kehrte sie zu ihrem Vater in die Bretagne zurück.

Ohne Abschluss und nennenswerten Referenzen sitzt sie also beim Bürgermeister nachdem ihr Vater versucht hat ihr mit seiner Bitte an seinen Arbeitgeber zu helfen.

Schon bald erkennt Laura welchen Preis sie für diese Hilfsbereitschaft zahlen soll.

Eine Geschichte wie sie tagtäglich und oft im Stillen geschieht. Der Ton dieses Romans ist eine Mischung aus Atmosphäre und bedrohlichen Gänsehautmomenten. Die Abhängigkeits- und Machtgeflechte dringen immer wieder in den Kopf der Leser*Innen ein und lassen einen die Ohnmacht und Ungerechtigkeit stark mitfühlen. Im Zuge der MeToo-Debatte eine intensive Auseinandersetzung und Beleuchtung der Themen rund um Machtmissbrauch und Victimblaming. Der Fokus liegt hier weniger auf den Charakteren als auf der Thematik selbst.

Ich habe das Gefühl, hier ist dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel eine außergewöhnliche Leistung gelungen.

Topaktuell, dramatisch und sehr real.