– Issa –

Mirrianne Mahn

“All das würde mein Freund nicht verstehen, selbst wenn er am Telefon einmal zuhören würde, denn er möchte es nicht verstehen, mein Gefühl der Verlorenheit, gefangen zwischen zu Schwarz in Deutschland und zu deutsch in Kamerun. Zu laut und fremd bei ihm, nicht stark und stolz genug bei meiner Familie. Dieses immer Zu-viel-oder-zu-wenig- Gefühl ist mein ständiger Begleiter.”

Um dem klärenden Gespräch mit ihrem weißen, deutschen Freund aus dem Weg gehen zu können, ist es der schwangeren Issa nur recht, dass sie von ihrer Mutter zu ihrer Mbambah (Urgroßmutter) für heilbringende Rituale nach Douala geschickt wird.
Als junge Schwarze Frau zweier Welten (deutsch und kamerunisch) fühlt sie sich oft unverstanden und verloren.
Die Beziehung zu ihrer Mutter ist angespannt – nach Buea ist sie direkt nach einem Streit abgereist. In der alten Heimat merkt sie wie sehr sie sich nach Zugehörigkeit und ihren Wurzeln sehnt, gleichermaßen merkt sie recht schnell, dass sie nicht nur -die eine- Identität hat.

Parallel werden im Wechsel zu Issas Erfahrungen in der Gegenwart, die Lebensgeschichten ihrer Vorfahrinnen erzählt. Ein ums andere Mal mussten sich die Frauen zusammenreissen, zusammenrotten und einige schwere Schicksalsschläge verkraften in einem System, von dem nur Männer profitierten. All dies zu Zeiten des (deutschen) Kolonialismus und unter dem Joch des Patriarchats, dem die Frauen ein ums andere Mal ausgeliefert waren. Machtstrukturen, Gewalt, Bigamie, zahllose Schwangerschaften und Totgeburten gehörten zum Alltag von Marijoh (Issas Mbambah), Namondo und Ayudele (Issas Mutter) 
Nur durch Zusammenhalt und gegenseitiger Fürsorge konnten sie überleben und sich behaupten.

“In unseren eigenen Geschichten sind wir keine Opfer, Issa, du hast lesen und schreiben gelernt, aber das Denken kann dir niemand beibringen, das musst du selbst erlernen. Denn dann kannst du deine Geschichte selbst schreiben.”

Durch die Gespräche, den Begegnungen und den heiligen Ritualen ergründet Issa ihre Familiengeschichte und versucht ihren eigenen Weg zu finden, um den Worten ihrer Mbambah zu folgen:
“Ich will nicht, dass du zulässt, dass irgendein Mann jemals wieder etwas von dir nimmt, das du ihm nicht aus freien Stücken gibst.”

@mirrianne_m hat in meinen Augen ein mitreissendes, starkes Debüt hingelegt. Dieses Buch ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen von Kolonialismus und eine literarische Darstellung weiblicher Stärke, die mich unglaublich berührt und für sich eingenommen hat. Ich fühle mich diesen Frauen so nah, in ihrem alltäglichen Kampf um Unabhängigkeit und dem Überleben in einer für Männer gemachten Welt. Ich war tief getroffen, weil es wirklich egal ist auf welchem Fleck der Erde wir Frauen geboren werden, wir tragen die gleiche Last – der Unterschied liegt nur im Gewicht.
Als deutsche Frau mit osteuropäischen Wurzeln kamen mir Themen des Buches wie Gastfreundschaft, der Stellenwert von Essen und das Beschenken der Verwandten bei Besuchen in der Heimat äußerst bekannt vor. Die schmerzhaften, rassistischen Erfahrungen kann ich als weißer Mensch nur zu begreifen versuchen. Meine Unsichtbarkeit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist mir wieder stark bewusst geworden.
Ein wichtiges Buch von aktueller Relevanz!

Erschienen bei: Rowohlt Verlag/ unbezahlte Werbung/ selbstgekauft

– Lila Leuchtfeuer –

Tijan Sila und Lena Schneider

Ella: “Lila ist eine Mutige, die ist einfach losgezogen! Und Hubert ist so witzig!“

Klara: “Philomeno sagt nicht viel und alle dachten er wäre böse, aber ich wusste gleich, dass der ganz in Ordnung ist!”

@lenalastig und @tijansila haben zusammen eine wirklich fantastische Abenteuergeschichte geschrieben, die uns herrlich Spaß gemacht hat!

Lila Leuchtfeuer, deren Familie in Siebenwirbelwinde, als Magichaniker des Ortes arbeiten, öffnet (verbotenerweise) in Abwesenheit ihres Vaters die Werkstatt. Als der eigentümliche Philomeno mit seinem Zughahn Phosphoros in der Werkstatt auftaucht, staunt Lila nicht schlecht. Der Knecht der Hexe Tremebunda Smert bringt deren Flugfass zur Reparatur. Schnell stellt sich heraus, dass Lila das Problem in der Werkstatt nicht lösen kann. Das Fass ist von einem reimenden Wurm-Fürsten besetzt, der sich weigert es zu verlassen und ausschließlich für ein magisches Spinnrad bereit wäre umzuziehen.

Um nicht den Zorn der berüchtigt bösartigen Hexe auf sich zu ziehen, bleibt nur eines übrig: Sie muss losziehen und das Spinnrad finden. In Begleitung des magischen, sprechenden Hammers Hubert und dem Waldgeist-Übersetzer-Eichhörnchen Willi, sowie Philomeno (der angewiesen wurde beim Fass zu bleiben) macht sich Lila auf eine gefährliche Reise, die so einige Überraschungen für alle bereithält.

Dieses Buch hat einfach soviel Spaß gemacht. Die Kinder hingen an meinen Lippen, ich hatte eine riesige Freude daran es vorzulesen und war regelrecht von den wundervollen Ideen in dieser Geschichte begeistert.
Auch wenn es ein Kinderbuch ist, hat es für mich ernste Anklänge und das finde ich einfach großartig! Steinigt mich, aber in sehr sehr vielen Kinderbüchern (die ich ja in Massen hier vorlesen muss) wird die Realität beschönigt, Angsteinflößendes abgemildert und weichgespült. Hier finde ich die Mischung als Elternteil perfekt. 

Lila Leuchtfeuer werden wir mit Sicherheit sehr oft verschenken.
Und liebe Lena und Tijan: haltet Euch ran! Die Zwillinge haben direkt nach dem Ende gemeint: “Holen wir dann morgen oder so Teil 2?!!!” …Ich hatte etwas Mühe sie zu besänftigen, dass Teil 1 erst jetzt herauskam…

Erschienen bei: Verlagsgruppe Beltz/ unbezahlte Werbung – selbstgekauft

– Abschied von Gabo und Mercedes –

Rodrigo García

“Das Leben, so alt es ist und so oft es gelebt wurde, ist zum Glück weiterhin unberechenbar. Wenn der Tod auf seiner Umlaufbahn so nahe kommt, enttäuscht er selten.”

Zu Gabriel García Márquez habe ich als Leserin eine ganz besondere Beziehung. Sein Werk -Hundert Jahre Einsamkeit- war neben einem anderen das erste Buch, welches mich im Alter von 14 Jahren weg von der Jugendliteratur und hinüber zur Erwachsenenliteratur gebracht hat.
Für mich unvergesslich und so war ich Feuer und Flamme als ich in der Vorschau -Abschied von Gabo und Mercedes- von Gabriels Sohn Rodrigo Garcia entdeckt habe.

Mit warmherzigen, sanften Worten beschreibt er die Einlieferung ins Krankenhaus, den geistigen Verfall seines Vaters, die niederschmetternde Krebsdiagnose und wie seine Familie ihn nach Hause holt, um ihm die letzten Monate so angenehm wie möglich zu machen. Schnell wird klar, dass die Zeit und die Chancen hastiger verstreichen als gedacht.

“Zu sehen, wie der Körper meines Vaters in der Brennkammer verschwindet, ist faszinierend und lähmend. Es fühlt sich gleichzeitig unglaublich bedeutungsvoll und nichtssagend an. Das Einzige, was ich in diesem Augenblick mit Gewissheit spüre, ist, dass er nicht mehr da ist. Es bleibt das undurchdringlichste Bild meines Lebens.”

Als Sohn des großen Literaturnobelträgers musste Rodrigo sich irgendwann in seiner Jugend distanzieren um als Filmemacher seinen eigenen Weg gehen zu können und nähert sich gerade deswegen so liebevoll und einfühlsam in den letzten gemeinsamen Momenten seinem Vater und später auch seiner Mutter an. Man spürt die Liebe in dieser Familie, das Interesse und die Wertschätzung füreinander. 

Tief berührend und eine literarische Erinnerungsstätte für einen großen Schriftsteller.

Übersetzung: Elke Link
Ganz lieben Dank @kiwi_verlag
[unbezahlt/ Rezensionsexemplar]


– Aber jetzt ist Schluss! –

Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen

Die Stiftung Brückner-Kühner und der Fischer Verlag haben gemeinsam ein unglaublich tolles Projekt ins Leben gerufen.

Sie haben Frauen dazu aufgerufen ungehalten zu sein.

Die Themen der Reden sind frei wählbar, mussten aber von gesellschaftlicher und persönlicher Relevanz sein und nicht länger als 10 Minuten dauern.

Eine Jury hat dann die besten Reden gewählt, welche im Rathaus von Kassel vorgetragen werden mussten.

In -Aber jetzt ist Schluss!- wurden die besten 10 Reden zu einer Anthologie zusammengefügt. 

Sie erzählen von dem hier und dem dort, über Dinge die geschehen und wie wir über sie schweigen, was Mutter Latein über uns Frauen sagt und welche Kraft eine Faust aufbringen kann.

Ein tolles Projekt, welches auf ungehalten.net abrufbar ist.

Vielleicht werde auch ich bei der nächsten Ausschreibung ein wenig ungehalten und reiche etwas ein.

(unbezahlt/ Rezensionsexemplar) S. Fischer Verlage

– Yellowface –

Rebecca F. Kuang

Für mich war -Yellowface- von Rebecca F. Kuang ein bitterböser Spaß. Klug, witzig und spannend!

Juniper “June” Hayward ist zerfressen von Neid wenn es um ihre ehemalige Studienkollegin, die chinesisch-amerikanische Autorin Athena Liu, geht.

Athena lebt den schriftstellerischen Traum, erntet gute Kritiken, kassiert die besten Verträge und handelt große Summen mit Netflix und Co aus, wenn es darum geht ihre Bücher zu verfilmen. Sie hat einfach alles, alle lieben sie und was sie anfasst wird zu Geld.
June kann nichts davon vorweisen, denn ihr Debütroman floppte und ihre Karriere stockt.

Bei einem gemeinsamen Abend in Athenas Wohnung, erstickt diese vor Junes Augen. In einer Kurzschlussreaktion eignet June sich Athenas geheime neue Arbeit, ein Manuskript über die chinesischen Arbeitskräfte im Ersten Weltkrieg, an und beginnt zu Hause daran weiterzuarbeiten. Innerhalb kürzester Zeit kann June, die nun unter “Juniper Song” publiziert, das Buch als ihr eigenes herausbringen, es wird zum Bestseller, sie wird in der Branche gefeiert, verdient nun einen Haufen Kohle und ihr Name ist in aller Munde.
Doch schon nach kurzer Zeit kommen die ersten Gerüchte auf Social Media auf sie hätte “Die letzte Front” gar nicht selbst geschrieben und sie wird von allen Seiten kritisiert als weiße Autorin würde sie sich der kulturellen Aneignung schuldig machen. Thema, ihr Name “Song”….betreibt Juniper Song etwa yellowfacing?

Ein vielschichtiger, temporeicher Roman der sehr viele äußerst aktuelle Themen aufgreift und als Zeugnis unserer Zeit betrachtet werden kann. -Yellowface- wirbelt sehr viele Kontroversen wie Rassismus in der Buchbranche und Cancel Culture auf; gewährt uns gleichermaßen sehr viele Einblicke wie ein Bestseller zustande kommt. 
Die Protagonistin hat sich natürlich des Betruges schuldig gemacht, aber an manchen Stellen kann man ihre Gefühle durchaus verstehen. Sie sind allzu menschlich.
Die Macht von Sozialen Medien, Shitstorms, Öffentlichkeitsarbeit im Verlagswesen und wie mit Krisen umgegangen wird — hier muss ich niemandem erklären an wen ich denken musste.
Klasse Genremix aus Satire und Thriller. I like!

Übersetzung: Jasmin Humburg
Erschienen bei: @eichbornverlag (unbezahlt/selbstgekauft)

– An Rändern –

Angelo Tijssens

-An Rändern- von Angelo Tijssens hatte mein Herz von der ersten bis zur letzten Seite in der Hand.

Ich war tief berührt, habe geweint und auch jetzt noch blicke ich mit einer Mischung aus Wehmut und Betroffenheit auf das Cover.

Die Handlung ist schnell erklärt: Ein junger Mann kehrt in seinen Heimatort an die Küste Flanders zurück um den Nachlass seiner Mutter zu regeln.

Viele Jahre sind vergangen seit er zuletzt hier war, denn sein Elternhaus war weder liebevoll noch warmherzig. Seine gesamte Kindheit war geprägt von der körperlichen und seelischen Misshandlung durch seine alkoholabhängigen Mutter.

Er möchte aber auch die Chance nutzen und seine erste große Liebe wiedersehen. Als feststand, dass er in seine Heimat zurückkehren muss, hat er über Social Media nach über 10 Jahre erstmals wieder Kontakt zu ihm aufgenommen und ein Treffen vereinbart.

Was für ein unglaublich großartiges, tieftrauriges und zugleich mitreissendes Buch. Angelo Tijssens hat für mich hier ein großes kleines Meisterwerk geschrieben. Es gibt Autor:innen die über 500 Seiten schreiben und damit nicht einmal annähernd soviel aussagen oder so viele Gefühle in einem Menschen wecken können.

Für mich ist Angelo Tijssens eine wahre Entdeckung und dieses literarische Kleinod wird mich für immer begleiten. Ich konnte bereits nach den ersten Seiten sagen, dass es für mich ein Jahreshighlight 2024 ist.

Übersetzung: Stefanie Ochel, erschienen bei Rowohlt (unbezahlt/ selbstgekauft)

– Griechischstunden –

Han Kang

“Es war das erste Mal, dass ich bei einem lebendigen Menschen eine solche Stille gespürt habe.”

Eine junge Frau nimmt Unterricht in Altgriechisch. Sie spricht kein Wort. Die Stimme ist verstummt, Worte reichen manchmal nicht oder sie finden uns nicht im richtigen Moment. Manchmal ist jedes Wort zuviel. Nach dem kürzlichen Tod ihrer Mutter und dem Verlust des Sorgerechts für den Sohn, gibt es für die junge Frau nicht mehr viel zu sagen.
Doch Sprache an sich übt eine gewisse Faszination auf sie aus.

Der Griechischlehrer spricht, sogar mehrere Sprachen. Schon bald wird er sein Augenlicht verlieren. Eine Augenkrankheit lässt ihn erblinden. Als Kind ist er mit seiner Familie von Korea nach Deutschland gezogen. Sein Leben ist ein einsames Durcheinander eines Außenseiters geworden. Aufgewachsen in unterschiedlichen Kulturen, weiß er nicht mehr wohin er gehört und die Angst seinen eigenen Weg bald nicht mehr sehen zu können, zwingt ihn in die Isolation.

Han Kang gibt dem Aufeinandertreffen zweier tief verletzlichen Menschen einen melancholischen, poetischen Rahmen in dem sie sich zaghaft annähern können und nach einem Weg der Verständigung suchen. Sehr sensibel, sehr leise.
Sie schenkt ihren Figuren Zeit, hier wird nichts überstürzt, die Verbindung wird langsam aufgebaut.
Mich hat dieser Roman sehr begeistert und berührt. Ich liebe Han Kangs Gedanken über die Menschen.

Übersetzung: Ki-Hyang Lee 
Vielen lieben Dank @aufbau_verlage 💙

(unbezahlte/ Rezensionsexemplar)