Brigitte Reimann

“Lutz hat mir einen furchtbaren Brief geschrieben — acht Seiten lang Freiheit und democracy und aufkeimender Hass gegen eine Schwester, die sich einem verabscheuungswürdigen Regime verkauft. Ich wage mich kaum noch an meine >>Geschwister<<.
(Brigitte Reimann, HOY 28.09.1961)
Als ich von @aufbau_verlage zum 50. Todestag von Brigitte Reimann gefragt wurde, ob ich Interesse hätte die Werke der mir bis dahin unbekannten Autorin zu lesen, habe ich nicht gewusst wie sehr mich ihre Worte beschäftigen und in mir nachhallen würden.
Sie schreibt darin über die junge Malerin Elisabeth Ahrendt, aus bürgerlichen Verhältnissen abstammend, die parteilos ist und in einem Kombinat arbeitet. Obwohl sie über kein Parteibuch verfügt, glaubt sie doch an Sozialismus und den Staat. Einige Jahre zuvor hat ihr älterer Bruder Konrad das System verraten und ist in den Westen abgehauen. Der Schmerz darüber sitzt noch immer tief.
Eines Abends zieht sie ihr anderer Bruder Uli ins Vertrauen und erzählt ihr, dass er in zwei Tagen ebenfalls nach Westdeutschland aufbricht. Er hat es leid mit ansehen zu müssen, wie er auf der Karriereleiter ein ums andere Mal überholt wird, nur weil er nicht der Partei angehört.
Elisabeth ist schwer getroffen und will nicht noch einen Bruder verlieren. So entspinnt sich eine heftige Diskussion zwischen den Geschwistern, in der Uli seiner Schwester das Scheitern Ostdeutschlands vor Augen führen will, während Elisabeth das Grundprinzip desgleichen verteidigt und ihn dazu aufruft trotz der politischen Hindernisse durchzuhalten anstatt zu gehen. Doch damit nicht genug — in ihrer Verzweiflung wendet sie sich an ihren Freund Joachim…
„Ich kann mich nicht erinnern, das Buch einer Frau in deutscher Sprache gelesen zu haben, in dem die Sehnsucht nach Liebe mit einer solchen Sinnlichkeit und Intensität gezeigt wurde.“
Marcel Reich-Ranicki, LQ/ ZDF über ihre Tagebücher. (1997/1998 im Aufbau-Verlag Berlin, Angela Drescher)
Hier muss ich Marcel zitieren — auch wenn ich nicht in allen Dingen seine Meinung teile, dann definitiv in Bezug auf Reimanns Schreiben.
Dem Fund von handschriftlichen Aufzeichnungen der Autorin in ihrem ehemaligen Wohnhaus in Hoyerswerda (2022) haben wir zu verdanken, dass es nun möglich war den Roman in ungekürzter und unzensierter Fassung neu zu veröffentlichen.
Zu dem Roman habe ich mir ebenfalls “Ich bedaure nichts” von Brigitte Reimann schicken lassen. Das Tagebuch hat mir einen noch besseren Eindruck in das Innenleben der Autorin gewährt.
Die autofiktionale Geschichte um das Geschwisterpaar ist Zeugnis einer Zeit, in der die Grenze nicht nur ein Land sondern auch zahlreiche Familien und Freunde gespalten hat, über Vertrauen aber auch über das Schweigen nach dem zweiten Weltkrieg.
Eine Frau, die schon damals den Mut hatte über die DDR zu schreiben und sie zu kritisieren.
Leider hat sie die Wiedervereinigung nicht mehr erlebt. Brigitte Reimann starb im Alter von 39 nach jahrelanger schwerer Krebserkrankung.