Anne Rabe

“So habe ich mir das vorgestellt. Der Holocaust und der Krieg, das war irgendwas in Polen und in Berlin. Stalingrad, das war in Russland und sehr weit weg.”
So empfindet es Stine, die 1986 in der DDR geboren wurde, und in der Gegenwart nach Antworten in ihrer Familiengeschichte sucht. Welche Rollen hatten -damals- ihre Großväter Paul und Arndt? Was haben sie alles getan während des Krieges und zu Zeiten der Mauer?
Sie gräbt sich durch Papiere, Unterlagen und durch Archive.
Auf den Spuren der Vergangenheit kommt Stine nicht umhin sich zu fragen, welche Beweggründe für das große Schweigen dieser Generationen vorliegen. Bis heute will niemand Täter gewesen sein, niemand etwas gewusst haben.
“Die Bilder die unseren Geschichtsunterricht begleiteten, zeigten bloß das Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts oder gleich Nazis, Holocaust und Auschwitz, Kahlgeschorene Menschen in Schwarz-Weiß, mit Schildern um den Hals, die sie denunzieren sollten. Schlimm sah das aus, aber auch sehr weit weg.”
Im zweiten Handlungsstrang kämpft sie gegen die psychischen Verwundungen, die ihre grausame Mutter ihr und ihrem kleinen Bruder Tim mit ihren Erziehungsmethoden zugefügt hat. Während Tim alles von sich schiebt und sich mit den Traumata nicht auseinandersetzen will, hinterfragt Stine ein ums andere Mal die Motive ihrer gewalttätigen Mutter. Den Kontakt hat sie schon seit Jahren abgebrochen. Das Verhältnis ist zerrüttet, die Angst immer noch groß. Umso aufgewühlter ist sie, als ihre Mutter rechtliche Schritte einleiten möchte um ihr Enkeltochter sehen zu können.
Das Thema des Buches ist sicherlich nicht neu und doch hochaktuell. In den letzten 2 Jahrzehnten kamen immer wieder Stimmen auf, die fordern, dass man die Vergangenheit endlich mal gut sein lassen sollte und doch zeigen die NSU Morde, Anschläge/ Morde wie die in Halle und Hanau und auch der aktuelle bundesweite Rechtsruck, dass die Ideologien von damals immer noch Einzug hält in unsere geschichtlich aufgeklärte Welt.
Ein starkes Buch, welches ich einige Mal zur Seite legen musste um erst einmal Luft zu holen. Es regt definitiv zum Nachdenken an und bietet starkes Gesprächspotential. Die Protagonistin findet für sich die ein oder andere Erklärung bezüglich ihrer Familie und deren Umgang mit alten Werten, die über die Jahre und mit Regierungswechseln an Bedeutung verloren haben.
Anne Rabe hat ein richtig gutes und wichtiges Buch geschrieben. Für mich bleibt die Entscheidung über den Sieger des diesjährigen Deutschen Buchpreises wirklich völlig unverständlich. Dies hier wäre ebenso ein weitaus besseres Siegerbuch gewesen.
Unbezahlte Werbung/ selbstgekauft. Erschienen bei Klett-Cotta Verlag