– Bin das noch ich –

Stefan Moster

Simon steht gerade in einer Kirche Finnlands und spielt Bartóks Solosonate für Violine, als der dritte und der vierte Finger seiner linken Hand ihren Dienst versagen.
Es ist der Albtraum eines jeden Musikers. Ihm bleibt nichts anderes übrig als den Auftritt abzubrechen. Er flüchtet in die Sakristei. Die Sommertournee kann er unmöglich fortführen. Er ist nicht mehr Herr seiner Hand. 
Geistesgegenwärtig eilt Kollegin Mai ihm zu Hilfe. Sie hat die Situation sofort erfasst und nimmt Simon inklusive der Violine mit in ihre Hütte auf einer abgelegenen Schäreninsel.

Hier soll Simon den Schock verdauen, zu Kräften kommen und sich mit der neuen Situation auseinandersetzen. 

„Was bringt mein Gehirn dazu, dasjenige abzustoßen, das der gesamte Inhalt meines Lebens ist? Nie habe ich etwas anderes ernsthaft getan. Das Spielen, das bin ich.“ 

In den ersten Tagen bewegt sich Simon in der fremden, einsamen Umgebung wie betäubt. Eigentlich war ihm klar, was geschieht. Schon früher hatte er immer wieder Schmerzen. Er wusste was sie bedeuten. Die Geige hat er in ihrem Kasten auf einem der Schlafplätze zur Ruhe gebettet. Auch wenn er ihre Nähe braucht und sucht, so hält er vorsichtig Abstand. 
Auf einem der Terrassenstühle nistet ein Möwenpaar. Täglich verfolgt Simon deren Routinen und Brutbemühungen. Die Vögel und er leben nebeneinander in gegenseitiger Akzeptanz. 
Um seine Gedanken zu sortieren und sich den Kummer von der Seele zu reden, schreibt er an Violinistin Darja.

„Am liebsten würde ich die Geige nehmen und dir meine Verzweiflung vorspielen, dann würdest du hören, welcher Art sie ist. Sie gleicht nicht der Trauer, die alles in den Schatten stellt, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, sie kommt nicht daher, dass man jemanden verliert, sondern entspringt dem Gefühl, die eigenen Proportionen verloren zu haben. Nicht bloß klein zu sein, sondern nichtig. Als wäre ich gar nicht mehr da. Was jedoch nicht stimmt. Da ist noch einer. Aber bin das noch ich?”

Schon bei Schülerwettbewerben war Darjas überragendes Talent und Simon wusste von Beginn an, dass er ihre Größe niemals erreichen kann. Diese Erkenntnis hat ihn aber niemals verbittern lassen. Vielmehr verfolgt und bewundert er seit Jahren Darjas Karriere aus der Ferne. 
In Abständen kommt Mai mit Lebensmitteln und Frischwasser. Obwohl Simon nur eine oder zwei Wochen bleiben wollte um den Kopf klar zu bekommen, werden es mehrere Wochen. Er ist noch nicht soweit die neuen Voraussetzungen zu akzeptieren. Noch hat er nicht die Antwort darauf gefunden, wie er weitermachen oder besser gesagt weiterleben kann.

„Bevor ich auf diese Insel gekommen bin, hat es keinen Tag gegeben, an dem ich das Instrument nicht in den Händen gehalten habe. Jetzt muss mein Körper eine neue Haltung finden. Meine Hände müssen neue Griffe lernen. Die Stunden, die dem Üben gehört haben, müssen ohne Instrument gefüllt werden.“ 

Schon als ich auf der Leipziger Buchmesse am Stand vom Mare Verlag über die Vorschau auf dieses Buch aufmerksam wurde, überkam mich das Gefühl, dass es ein großartiges sein muss. Ich spürte das Verlangen es unbedingt lesen zu müssen. 
Was für ein sensibler, melancholischer Roman. Stefan Moster schreibt darüber wie unglaublich niederschmetternd und schmerzhaft es ist, wenn ein Mensch seinen gesamten Lebensinhalt und seine Identität verliert. Selbst wenn man weder musikalisch ist, noch mit Bach oder Ravel etwas anzufangen weiß, so transportiert Moster die unerbittliche Tragik mit unglaublicher Präzision. 
Dies ist ein Buch welches mit noch sehr lange begleiten wird. 

Danke an @mareverlag
[unbezahlte Werbung/ Rezensionsexemplar]

Veröffentlicht von booksandtwins

Books/ Twinmom/ Reader/ Writer There's just parts of me that you can't have. No-one can.

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